• Deutschlands Handballer schreiben mit ihrem Sieg über Polen EM-Geschichte.
  • Das von Corona-Infektionen gebeutelte Team von Alfred Gislason steckt neun Ausfälle weg und schafft ohne Training den dritten Sieg im dritten Spiel.
  • Besonders verrückt ist die Geschichte der Nachnominierung eines gesunden Torhüters.
  • Er ist Weltmeister, aber schon 39 Jahre alt und gerade Vater geworden.

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Man stelle sich diese Notsituation mal mit der deutschen Nationalmannschaft der Fußballer am Jahresende bei der WM in Katar vor: neun Ausfälle wegen Corona-Infektionen, ein Spieler aus der 2. Bundesliga dabei, dazu etliche Jungspunde ohne Turniererfahrung - und es gibt keinen gesunden Torhüter mehr.

Insofern fiel die öffentliche Bestürzung vor dem Vorrunden-Abschluss der deutschen Handballer bei der EM in der Slowakei gegen Polen vergleichsweise aus.

Der Aufstieg in die Hauptrunde stand fest, zugegeben. Aber es ging um zwei wertvolle Punkte, die die DHB-Auswahl nach einem beeindruckenden 30:23-Erfolg dorthin mitnimmt. Denn auch das Weiterkommen der Polen stand bereits vor dem Anwurf fest.

Johannes Bitter: "Das Verrückteste, was man machen kann"

Den Nachbarn so klar auf Distanz gehalten zu haben, geht auch auf das Konto eines Weltmeisters von 2007. Johannes Bitter gab zu: "Es ist ziemlich das Verrückteste, was man als Handballer machen kann, aus dem Urlaub in den Flieger zu steigen und 60 Minuten bei der Europameisterschaft zu spielen."

Dazu sei erklärt: Nach den Olympischen Spielen in Tokio 2021 hatte der inzwischen 39-jährige Bitter seine Karriere in der Nationalmannschaft eigentlich beendet. Sein Jahr 2022 begann mit der Geburt seines ersten Kindes. Und am Abend vor dem verrückten Polen-Spiel saß Bitter mit der Familie noch beim Abendbrot. Danach habe er "gesehen, dass ich einen verpassten Anruf vom Bundestrainer hatte. Da musste ich erst einmal durchatmen."

Nur noch im äußersten Notfall wollte Bitter in der Nationalmannschaft aushelfen. Dieser trat ein, Corona wegen. "Es war klar, dass ich in dieser Notsituation nicht Nein sagen konnte."

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Handball-EM 2022: Jogi Bitters Wecker klingelte um 4:30 Uhr - kein Abschlusstraining

Um 4:30 Uhr am Dienstagmorgen klingelte der Wecker. Nach der Ankunft in Bratislava ging es zum Corona-Test und danach direkt ins Hotelzimmer. "Ich habe die anderen Jungs erst um 15:00 Uhr gesehen, als ich in den Mannschaftsbus gestiegen bin", schilderte der Keeper des Bundesliga-Aufsteigers HSV Hamburg die spektakulär unspektakuläre Vorbereitung auf sein Comeback. An ein gemeinsames Training war nicht zu denken. Für die gesamte Mannschaft fiel das Abschlusstraining aus, weil sie noch auf die Ergebnisse ihrer Corona-Tests hatte warten müssen. "So etwas gab es noch nie", bemerkte Bundestrainer Alfred Gislason im ZDF.

Bitter traf auf Spieler, die seine Kinder sein könnten. Wie der 21-jährige Julian Köster. Er wies gegen die Polen eindrucksvoll nach, dass auch ein Zweitligaspieler bei einer EM Akzente setzen kann. Das Talent des VfL Gummersbach avancierte zum "Man of the Match".

Gislason wunderte das nicht: "Die individuelle Klasse kenne ich sehr gut", so der Isländer. Er schüttete sein Lob über allen Beteiligten aus. "Dass sie unter diesen Bedingungen und diesem Druck eine solche Leistung bringen können, ist großartig. Riesiges Kompliment, was sie gezeigt haben. Überragende Abwehr, überragender Angriff - von der ersten Minute an voll da."

EM-Neuling Christoph Steinert erzielt die meisten Tore gegen Polen

Bester Werfer vor 1.076 Zuschauern in Bratislava war EM-Neuling Christoph Steinert mit neun Treffern. Er sagte: "Wir hatten viel Energie und Spannung, um dagegenzuhalten."

"Was die Mannschaft in den 60 Minuten abgerissen hat, war einer der schönsten und tollsten Momente, die wir bisher erlebt haben", ergänzte Spielmacher Philipp Weber. "Dass wir so eine Performance abgeliefert haben, macht uns extrem stolz."

Trotz seiner kurzen Nacht war auch Bitter auf dem Parkett hellwach. Musste er auch sein. Denn nach Andreas Wolff saß auch Till Klimpke in Quarantäne und die ebenfalls als Ersatz angefragten Joel Birlehm und Silvio Heinevetter standen aus privaten beziehungsweise gesundheitlichen Gründen nicht zur Verfügung. Bitter war also plötzlich der einzige Torhüter im auf 14 Mann geschrumpften DHB-Kader. "Es ist sicher noch nicht oft passiert, dass die ersten vier Torhüter ausfallen und dann der fünfte kommt und spielt", sagte der Routinier. "Es ist eine verrückte Situation."

Hätte Bitter sich verletzt, hätte Gislason Paul Drux ins Tor gestellt

Und sie hätte noch verrückter werden können: Wäre Bitter während der Partie gegen Polen verletzungsbedingt ausgefallen, hätte ein Feldspieler ins Tor gemusst. Und es gab tatsächlich einen, der Gislason seine Bereitschaft dazu erklärt hatte. "Ich habe mich in der Halbzeit sogar schon warm gemacht. Ich weiß nicht, warum Alfred dann nicht auch mal gewechselt hat", scherzte Rückraumspieler Paul Drux am Mittwochmorgen in Bratislava. "Man kann froh sein, dass ich nicht ins Tor gehen musste."

Zu Bitters Unterstützung stößt Daniel Rebmann von Frisch Auf Göppingen als zweiter Torwart zum Team, das zum Auftakt der Hauptrunde am Donnerstag auf Titelverteidiger Spanien trifft. "Das ist eine der abgezocktesten Mannschaften die es gibt", warnte Gislason vor dem hochkarätigen Gegner. Der Bundestrainer ließ neben Bitter auch die erfahrenen Rune Dahmke, Fabian Wiede, Drux sowie Sebastian Firnhaber nachkommen.

Nach dem couragierten Auftritt gegen Polen ist Bitter vor der Herausforderung nicht bange. "Ich habe eine Mannschaft gesehen, die einen geilen Spirit in der Abwehr hatte, die super gearbeitet und sich gut unterstützt hat", lobte er seine Vorderleute. "Ich glaube, der Druck ist jetzt für die Mannschaft komplett weg, nach dem, was alles passiert ist."

Darauf hofft auch Gislason. "Ich denke schon, dass eine solche Extremsituation die Mannschaft besonders zusammenschweißt." In der zweiten Turnierphase warten neben Spanien der WM-Zweite Schweden, der Olympia-Dritte Norwegen und Russland.

Die Corona-Infektionsgefahr bleibt bestehen

Die deutsche Mannschaft nimmt nicht nur 2:0 Punkte mit, sondern auch viel Selbstvertrauen. Zunächst heißt es aber weiter: Schotten dicht! Denn die Gefahr weiterer Ansteckungen ist nicht gebannt. "Es ist sicher vernünftig, sich zurückzuziehen", sagte Bitter. "Da müssen wir noch ein, zwei Tage durch, um die Infektionskette zu durchbrechen." (dpa/hau)

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