Die Türkei ist nach der 0:3 Pleite gegen Titelverteidiger Spanien so gut wie aus dem Turnier ausgeschieden. Den türkischstämmigen Fans in Wien ist dies egal. Sie feierten trotzdem lautstark in die Nacht hinein, denn die Türkei hat immer das letzte Wort.

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Der Yppenplatz im Ottakringer Brunnenviertel ist eine Wiener Szenegegend. Hier treffen, umgeben von Kaffeehäusern und Esslokalen, ansässige türkische Migranten auf die zugezogene Hipster-Generation. Im Prinzip, seit spätestens 2008, der ideale Ort, um sich ein vorentscheidendes Spiel von "Türkiye" gegen die "Furia Roja" anzusehen und um die berühmte heißblütige Stimmung türkischer Fans einzuatmen. So die Idee.

Eine halbe Stunde vor Anpfiff des Spiels Spanien gegen die Türkei sind vor Ort allerdings nur ein paar Kinder zu sehen, die zwischen den Lokalitäten Fußball spielen, während Musiker spanische Volkslieder zum Besten geben und auf Almosen hoffen. Weiter hinten fährt ein einzelnes Auto vorbei. Mit türkischer Flagge aus dem Fenster hängend.

Sonst: eine große Leere. Man vermisst den Halbmond in der berühmt-berüchtigten Gegend und fragt sich, ob die Fans von Arda Turan und Hakan Calhanoglu nach der Niederlage gegen Kroatien bereits aufgegeben haben.

Kein Halbmond in Sicht

Hassan Hussein Ali ist ein Imbissstandbesitzer und glaubt tatsächlich nicht mehr an ein Weiterkommen seiner Mannschaft. Er weiß nicht genau, wo die ganzen Fans der türkischen Nationalmannschaft sind, glaubt aber, die meisten würde es heute wohl ins Stadtzentrum ziehen. Ein goldener Tipp, wie sich herausstellt.

Ortswechsel. Der Rathausplatz im ersten Bezirk ist heute das, was die Gegend rund um den Brunnenmarkt einmal war. Man hört Schlachtgesänge und sieht ein Meer aus roten Dressen und Flaggen. Die türkischen Anhänger sind in der Überzahl und haben die Mitte des Platzes, direkt vor der Leinwand, besetzt.

Rechts und links davon sitzen die Fans des Titelverteidigers Spanien. Es wirkt beinahe so, als ob sie damit ihre "Gegner" in die Zange nehmen. Eine zukunftsweisende Symbolik, wie sich später herausstellen sollte. Die Stimmung ist gut und Feindseligkeit heute außen vor.

Ein migrationshintergrundloser Österreicher lässt einen türkischen Fan an seinem Bier nippen und ruft zum Spaß: "Das ist Integration". Er erntet Gelächter.

Das letzte Wort

Fatih Aslaner und Emre Aslan sind zu Anfang noch positiv gestimmt. Ein knapper Sieg oder ein Unentschieden wären schon möglich, glauben beide vor dem Spiel. Man dürfe nur wenige Fehler machen.

Auch Eyyup Akkaya ist siegesgewiss: "Man darf nicht vergessen: Egal was passiert, die Türkei hat immer das letzte Wort", sagt er. Knapp mehr als eine halbe Stunde hält diese Hoffnung auf eine kleine Sensation gegen Spanien, trotz spielerischer Dominanz des Europameisters von 2012 und 2008.

Als das erste Tor durch Morata fällt, verstummen sie, die "Türkiye, Türkiye - Rufe" der vielen Fans. Auch das 0:2 von Nolito unmittelbar danach zeigt Wirkung und der Jubel der an Anzahl unterlegenen Spanien-Fans wird lauter. Unter den türkischen Anhängern macht sich hingegen Frust breit, der bereits zum Pausenpfiff seinen Höhepunkt erreicht.

Man hört Flüche, sieht verständnisloses Kopfschütteln. Ein junges Mädchen droht, nicht heimzugehen, bis die Türkei einmal getroffen hat. Indes wächst die Angst vor einem spanischen Kantersieg.

Ein Untergang und Gesänge

Das zweite Tor von Morata ist schlussendlich der fußballerische Todesstoß. Der Treffer hat seltsamerweise aber eine andere Wirkung auf die türkischstämmigen Zuschauer, als zu erwarten ist. Die Türkei-Fans zeigen nämlich eine Reaktion, die sich leicht mit ironischer Verzweiflung kurz vor dem Untergang einer Fußballnation oder Häme verwechseln lässt.

Man beginnt zu singen, schmettert im Minutentakt Fußball-Lieder dahin, schwenkt Fahnen und führt wilde Tänze auf. Dem Spiel kommt immer mehr die Aufmerksamkeit abhanden.

Wie zum Beweis zieht eine kleine Rangelei für die nächste halbe Stunde mehr Blicke auf sich, als die Männer in Rot, die am Bildschirm dem Ball nachjagen. Diskussionen und beruhigende Zurufe beenden schließlich den Vorfall friedlich. Dann ein Pfiff und Gewissheit. 0:3 verloren. Man drängt hinaus.

Feiern statt Trauern

Die beiden Fanlager begegnen sich auf dem Weg durch die Kontrollen und starten einen Sängerwettstreit, der aber nur kurz währt. Bis zu 50 Sympathisanten von Fatih Terims Team queren infolge die Straße und feiern auf den Stufen des Burgtheaters ihre Mannschaft.

Ein Mädchen mit spanischer Flagge ins Gesicht gemalt nennt sie "schlechte Verlierer", steht damit aber konträr zur Erklärung eines türkischen Paares, warum man freudig sei. "Ob Sieg oder Niederlage ist uns egal, wir stehen immer hinter der Mannschaft. Die türkische Flagge trägt ja das Blut von Millionen. Und schließlich ist es stets besser zu feiern, statt zu trauern", verdeutlichen sie ihre gute Laune so heißblütig, wie man nach einer Niederlage nur sein kann.

Spanien siegt und die Türkei singt. Sie verabschiedet sich diese Nacht (und wahrscheinlich bald auch aus Frankreich) mit letzten Worten, deren Intensität neutrale Beobachter auf eine erfolgreichere Zukunft des türkischen Nationalteams in diesem Spiel der Spiele hoffen lässt. Sie lauten: "Türkiye. Türkiye".

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