Endlich wieder Fans im Stadion – und in Bochum fliegt ein Becher. Inakzeptabel. Aber Sippenhaft ist keine Lösung und wird den Fans nicht gerecht.

Eine Kolumne
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Für etliche Fußballfans war das vergangene Wochenende ein echter Feiertag: Es ist lange her, dass so viele Menschen gemeinsam ihre Teams live anfeuern konnten. Und die Geisterspiele oder vor kleinem Publikum ausgetragenen Partien hatten noch eine ganz andere Auswirkung, nämlich das Wegfallen eines wichtigen sozialen Raums. Fußball ist mehr als auf dem Platz.

Auch vor Becherwurf: Fußballfans haben einen schlechten Ruf

Gerade in der Pandemie hat sich das gezeigt. Während aus der Politik geunkt wurde, die Fans würden sich vermutlich nicht an Geisterspiele halten, sondern dennoch in Scharen zu den Stadien pilgern oder sich anderswo in Masse und Unvernunft treffen, organisierten die stattdessen an vielen Standorten soziale Unterstützung. Von Einkaufshilfen für Risikopatient*innen über Geld für befreundete Klubs in besonders von COVID-19 gebeutelten Regionen oder Unterstützung für lokale Kleinunternehmen waren der Kreativität keine Grenzen gesetzt.

In der Öffentlichkeit oder den Medien wurde das vergleichsweise wenig thematisiert, denn Fußballfans haben eine extrem schlechte Lobby. Den Ruf gewaltbereiter Pöbler*innen werden sie nicht los. Oft spricht daraus vor allem eins: Unkenntnis.

Da echauffieren sich Leute, die nie ein Stadion von innen gesehen haben, die sich nicht mit Menschen unterhalten, für die es eine Heimat ist, und auch nicht mit jenen, die beispielsweise in den vereinsnahen Fanprojekten seit Jahren Sozialarbeit mit Jugendlichen leisten. Wer zum Fußball geht, ist gefährlich: fertig.

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Der Becherwurf ist inakzeptabel

Umso frustrierender sind deshalb Ausfälle wie der Becherwurf in Bochum am Freitag. Alle, die positiv im Fußball wirken, die sich hier engagieren gegen Rassismus und Sexismus, die in den zahlreichen Projekten der Vereine und Verbände engagiert sind, die den Fußball nutzen, um Menschen zu erreichen und positiv in die Gesellschaft zu wirken, brechen innerlich ein wenig zusammen, wenn sowas passiert. Weil darauf die immer gleichen Mechanismen folgen.

Um es ganz klar zu sagen: Der Becherwurf ist inakzeptabel. Was daraus abgeleitet wird, schießt dennoch weit übers Ziel hinaus – und das hat System. Sofort wird in Schlagzeilen aufgerüstet, ist von der generellen Gefährdung im Stadion die Rede, sind wieder ALLE Fans im Fokus, finden sich Verantwortliche, die Stadionverbote, Alkoholverbote, Geisterspiele und mehr fordern.

In diesen Forderungen schwingen die bekannten Vorurteile mit gegen Fans, die beinahe begeistert in den düstersten Farben gezeichnet werden. Es ist die immer alte Leier auf neuer Klaviatur. Das ist undifferenziert, ermüdend und entspricht einfach nicht der Realität des Fußballs.

Was die Zahlen sagen

Die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) legt nach jeder Saison Zahlen rund um den Fußball vor. Demnach verzeichneten die ersten drei Ligen in der Saison 2018/2019, der letzten ohne Beeinträchtigung durch Corona, rund 22 Millionen Besucher*innen bei insgesamt 1.151 Spielen. Dabei wurden laut ZIS 1.127 Menschen verletzt. Natürlich ist da jede Person eine zu viel, allerdings gibt es seit Jahren Kritik, dass die ZIS kaum aufschlüsselt: Ob Verletzungen bei einer Auseinandersetzung passieren oder weil jemand auf der Treppe ausrutscht – unklar.

Man kann nun natürlich die Frage stellen, was diese Zahlen mit dem Becherwurf zu tun haben. Die Antwort ist simpel, es geht um das Verhältnis. Ja, die Aktion ist zu verurteilen, das ist keine Frage. Geht es darum, welche Konsequenzen daraus gezogen werden, greift aber der Reflex zur Sippenhaft und das ist unlauter.

Nur mal zum Vergleich, auf dem Oktoberfest waren 2019 6,3 Millionen Menschen zu Besuch, 6.592 davon mussten ärztlich behandelt werden. Niemand käme aber auf die Idee, alle Besucher*innen zu bestrafen, wenn ein mutmaßlich betrunkener Vollpfosten einen Unbeteiligten mit einem Wurfgeschoss verletzt hätte. Das hat gute Gründe.

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Unfair: Alle Fans werden über einen Kamm geschert

Auch wenn es innerhalb der Fans feste Gruppierungen gibt, sind Fußballanhänger*innen keine homogene Gruppe. Würden die Leute, die bei diesen Themen am lautesten krähen, mal ein Stadion besuchen, wüssten sie das auch. Hier sind Jugendliche ebenso anzutreffen wie Familien mit Kindern, Alleinstehende und Senior*innen, es ist ein lebendiger Raum, in dem Menschen mit verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen zusammenkommen. Wie an jedem anderen Ort gibt es Leute, die sich zu benehmen wissen und andere, die es vergessen; gibt es Menschen, die achtsam agieren und jene, die über die Stränge schlagen.

Wie überall passieren Dinge, die so nicht passieren sollten, wie überall muss man diesen ganz selbstverständlich nachgehen, wie überall muss Kommunikation stattfinden, Aufklärung, die Suche nach Lösungen und eine Aufarbeitung dessen, was schiefgelaufen ist. Aber all das sind keine Gründe, in Schlagzeilen sämtliche Fans über einen Kamm zu scheren und immer wieder aufs Neue das Märchen vom Stadion als gefährlichem Ort zu erzählen, nur weil Fans offenbar eine Gruppe sind, auf die sich einige sehr gut als gesellschaftliche Störer einigen können. Das wird ihnen nicht gerecht. Und das sollten nicht zuletzt auch die Vereine deutlich machen.

Apropos Vereine, den Vogel schießt derweil der VfL Bochum selbst ab, mit dem Ansinnen, das Spiel solle wiederholt werden, statt für Borussia Mönchengladbach gewertet. Jeder einzelne Fan ist demnach für das Verhalten aller anderen verantwortlich, aber der Verein will mit den Fehltritten der eigenen Fans nichts zu tun haben? Es wird ehrlich immer doller.

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