Mit Massenprotesten haben die Armenier ihren autokratischen Präsidenten aus dem Amt gejagt. Ein Machtwechsel, der einer landesweiten Party gleichkam, ohne Gewalt, ohne jegliches Blutvergießen, kurzum: ein Wunder. Wie ist dem kleinen Land im Kaukasus gelungen, was andernorts unmöglich scheint?

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Einen Hunderter als Einsatz? Oder gleich den Autoschlüssel? Viele Menschen würden wohl darauf wetten, dass US-Präsident Donald Trump niemals den Satz sagt: "Hillary Clinton hatte recht. Ich hatte unrecht." Auf ihren Regierungschef gemünzt, hätten sich noch vor fünf Monaten wohl auch viele Armenier auf diese Wette eingelassen. Heute wissen wir: es wäre ein Fehler gewesen.

Dem Oppositionsführer recht zu geben, gehört für gewöhnlich nicht einmal zum Repertoire von demokratischen Politikern. Noch unwahrscheinlicher ist ein solches Eingeständnis von einem Autokraten wie Sersch Sargsjan. Dennoch schrieb der damalige armenische Machthaber am 23. April in einer Erklärung: "Nikol Paschinjan hatte recht. Ich hatte unrecht." Und damit nicht genug der Wunder.

Viele Armenier wollten Sersch Sargsjan loswerden. In einem Land, in dem offiziell knapp drei Millionen Menschen leben, de facto wohl nur 2,5 Millionen, gingen an einem Tag allein in der Hauptstadt Jerewan 115.000 Menschen gegen seine Wiederwahl durch das Parlament auf die Straße. Das Ergebnis nach drei Tagen Massenprotest: Sargsjan trat zurück. "Die Straße will nicht, dass ich dieses Amt innehabe. Ich erfülle ihre Forderung."

Stell dir vor, es ist Revolution, und der Machthaber gibt einfach klein bei. In Armenien ist Realität geworden, was an anderen Orten der Welt, wo Menschen gegen autokratische oder diktatorische Regime aufbegehren, unmöglich scheint: ein friedlicher Umsturz, bei dem nicht ein Tropfen Blut fließt. Wie konnte das gelingen? Einschätzungen der Armenien-Kennerin Cindy Wittke vom Leibnitz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung:

Cindy Wittke: "Es ist wirklich faszinierend, dass es in Armenien 2018, anders als 2008, mit dem unblutigen Regierungswechsel geklappt hat."

Um das Wunder von Armenien in Gänze begreifen zu können, muss man ins Jahr 2008 zurückblicken. Mit Druck und Stimmenkauf brachte die Republikanische Partei, die seit dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Armeniens 1991 durchgehend den Staatschef gestellt hatte, die Menschen dazu, dass das so blieb. Amtsinhaber Robert Kotscharjan übergab das Präsidentenamt an seinen Wunsch-Nachfolger Sersch Sargsjan.

Rund 25.000 Armenier demonstrierten gegen den Wahlbetrug - und Noch-Präsident Kotscharjan ließ die Proteste niederschlagen. Polizisten gingen mit Tränengas und Schlagstöcken auf die Demonstranten los. Ein Ordnungshüter raste mit seinem Auto in die Menge. Die Situation eskalierte. Demonstranten setzten Autos in Brand und plünderten Geschäfte. Mehrfach fielen Schüsse. Die Bilanz laut offiziellen Angaben: zehn Tote, hunderte Verletzte. In Wahrheit dürfte es noch mehr Opfer gegeben haben, sagt Cindy Wittke.

Die Erinnerungen an 2008 müssen im Frühjahr 2018 noch sehr lebendig gewesen sein. Umso bemerkenswerter ist, dass sich Tausende wieder auf die Straße getraut haben.

Die Anführer der Proteste von 2008 steckte die Regierung ins Gefängnis. Human Rights Watch berichtete von unfairen Verfahren, Drohungen und Misshandlungen.

Unter den Inhaftierten war auch Nikol Paschinjan. Ursprünglich zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, kam er 2011 durch eine Amnestie frei. Ein Jahr später zog er in die Nationalversammlung ein. Bei der Parlamentswahl im vergangenen Jahr holte er mit dem von ihm gegründeten liberalen Parteibündnis Elk ("Ausweg") knapp acht Prozent der Stimmen.

Paschinjans Erfolge konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Präsident Sargsjan seine Macht zementierte. Die Präsidentschaft ist auf zehn Jahre begrenzt. Im Wissen, 2018 seinen Posten räumen zu müssen, schraubte Sargsjan an der Verfassung herum. 2015 wechselte Armenien vom Präsidialsystem, in dem der Präsident die Macht hat, zum parlamentarischen System mit starkem Premierminister.

Für dieses Amt nominieren die Republikaner - wie von der Opposition prophezeit - vor der Wahl 2018 Sargsjan. Der kandidierte, obwohl er das zuvor mehrfach öffentlich ausgeschlossen hatte, und wurde vom Parlament gewählt.

Nach Jahren in der hinteren Reihe war damit die Stunde des Nikol Paschinjan gekommen. Der Oppositionelle rief zu Protesten auf. Erst folgten Hunderte. Fünf Tage später waren es schon 50.000, dann über 100.000.

Eine Revolution braucht einen Helden. In diesem Fall ist er 43 Jahre alt. Ein Mann, der für seine Überzeugung ins Gefängnis gegangen war. Ein Mann, der sich bislang nicht hat korrumpieren lassen. Und einer, der lebt wie ein normaler Bürger, nicht wie die Oligarchen der politischen Elite, die in großen Häusern auf großen Grundstücken ihren Privilegien frönen und sich nur in Limousinen durchs Land bewegen.

Cindy Wittke: "Nikol Paschinjan hat die Zutaten für den Führer einer Massenbewegung: Er gibt sich politisch unverbraucht und volksnah und hat Charisma."

Anders als 2008, hält die Polizei sich im Frühjahr 2018 sehr zurück. Nach einigen Tagen mischen sich gar Polizisten unter die Demonstranten. Auch Soldaten und Geistliche reihen sich ein.

Cindy Wittke: "In dem Moment, als ich Polizisten, Soldaten und Mitglieder des Klerus habe marschieren sehen, war für mich klar, dass diese Proteste eine Chance haben."

Aus dem Protest wird eine riesengroße Party. Auch jene, die bislang Angst vor Ausschreitungen hatten, trauen sich auf die Straße. Plakat und Picknick. Eltern packen ihre Kinder ein, Oma und Opa kommen auch mit. Aus der Wut über korrupte Politiker, bittere Armut und massive Abwanderung wird Hoffnung, gemeinsam etwas ändern zu können.

Was Sersch Sargsjan gedacht hat, als er selbst Polizisten und Militärs gegen sich sah, darüber lässt sich nur spekulieren. Womöglich kam er selbst zu der Einsicht, dass er zu weit gegangen war. Möglich ist aber auch, dass seine eigene Partei ihn zum Rücktritt gedrängt hat. Es mag Republikaner gegeben haben, die für die Partei nur mit neuem Personal eine Zukunft sehen.

Cindy Wittke: "Ich vermute, dass es auch in der herrschenden Partei Menschen gab, die Sargsjan klar gemacht haben, dass die Situation nicht haltbar ist."

Vier Monate sind seit dem Umsturz vergangen. Das Parlament hat Protestführer Nikol Paschinjan zum Premierminister gewählt, auch mit Unterstützung der Republikaner.

Es ist zu früh um zu beurteilen, ob er den Erwartungen seiner Anhänger gerecht werden wird. Positiv wertet Armenien-Kennerin Wittke, dass Ex-Präsident Kotscharjan jüngst wegen der Niederschlagung der Proteste von 2008 angeklagt wurde.

Unabhängig davon, wie es weitergeht, ist das Land nicht mehr das alte. Nach der Eskalation 2008 waren viele Menschen in politische Lethargie verfallen. Die ist jetzt dem Optimismus gewichen, das Schicksal des Landes beeinflussen zu können.

Cindy Wittke: "Gerade junge Menschen haben aus der Revolution neue Hoffnung geschöpft. Sie glauben jetzt wieder daran, dass eigenes Engagement wirkmächtig ist."

Lässt sich andernorts nachmachen, was Armenien vorgemacht hat? Man ahnt, dass es so einfach nicht ist.

Eine Massenbewegung, die sich mithilfe sozialer Medien formiert und ein charismatischer Führer, der nicht aus den Reihen der etablierten Parteien stammt, sind laut Wittke heute Erfolgsfaktoren für gelingende Umstürze. Doch Unwägbarkeiten bleiben.

Cindy Wittke: "Armenien steht für Formate, die heute gewählt werden, um einen Regimewechsel hervorzubringen. Aber eine Garantie, dass ein Umsturz gelingt, gibt es leider nicht."

Hätten sich Polizei, Militär und Klerus in Armenien nicht auf die Seite der Demonstranten gestellt - die Sache wäre wohl anders ausgegangen.

Ähnlich die Rolle des großen Nachbarn: Nicht abzusehen ist, was passiert wäre, hätte Russland sich eingemischt, wie etwa 2013 beim Euromaidan in der Ukraine: Putin verteufelte die Proteste als vom Westen inszeniert, zweifelte nach dem Umsturz die Rechtmäßigkeit der neuen Führung an und annektierte schließlich völkerrechtswidrig die Krim. Die Folge: Ein Krieg, der auch nach vier Jahren und über 10.000 Toten nicht beendet ist.

Die Demonstranten in Armenien hingegen ließ Putin gewähren, wohl, weil er Russlands Rolle als Schutzmacht nicht gefährdet sah, wie Wittke sagt. Paschinjan strebt vor allem innenpolitische Veränderungen an. Außenpolitisch will er weitgehend beim bisherigen Kurs bleiben.

Das Wunder von Armenien, es wäre keines, ließe es sich so einfach reproduzieren.

Cindy Wittke ist promovierte Völkerrechtlerin. Sie leitet die Forschungsgruppe "Frozen and Unfrozen Conflicts" am Leibnitz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, die sich auch mit dem Konflikt um Bergkarabach befasst. Von August 2007 bis Mai 2008 war sie Lektorin am Lehrstuhl für Europa- und Völkerrecht der Juristischen Fakultät der Universität Jeriwan.

Verwendete Quellen:

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