Obwohl Venezuela weltweit die größten Erdölvorkommen hat, steht es kurz vor dem Kollaps. Wie konnte das so weit kommen und ist Besserung in Sicht?

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Auf den ersten Blick passt es so gar nicht zusammen: In der Nation mit den weltweit größten Erdölvorkommen sind Lebensmittel und Medikamente knapp, die Bevölkerung ist bitterarm.

Venezuela steckt in einer humanitären und wirtschaftlichen Krise mit historischem Ausmaß: Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) ist die Wirtschaftskraft des Landes in den letzten sechs Jahren um etwa 60 Prozent geschrumpft.

"Maduro-Diät": Bevölkerung hungert

Das Auswärtige Amt warnt Reisende vor Versorgungsnotstand, gewaltsamen Auseinandersetzungen und akuter Knappheit an Banknoten. Einheimische sprechen bereits von der "Maduro-Diät" - sie haben durch die prekäre Lage im Schnitt acht Kilogramm Körpergewicht im vergangenen Jahr verloren.

Hinter dem Namen steckt der venezolanische Staatspräsident Nicolás Maduro. Am 10. Januar will er seine zweite Amtszeit antreten.

13 lateinamerikanische Staaten der sogenannten "Lima-Gruppe" sprechen dem Sozialisten Maduro jedoch die Legitimation dafür ab. Auch die USA und die Staaten der Europäischen Union erkennen die Wahl nicht an.

Korruption und Vetternwirtschaft

"Die aktuelle politische Lage in Venezuela ist äußerst angespannt. Das Parlament ist de facto entmachtet, Maduro hat eine alternative Nationalversammlung einberufen. Der Parlamentspräsident hat seine zweite Amtszeit als illegitim bezeichnet", sagt Politikwissenschaftler Prof. Dr. Nikolaus Werz von der Universität Rostock im Gespräch mit unserer Redaktion.

Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Politik in Lateinamerika, lebte selbst eine Zeit lang in Venezuelas Hauptstadt Caracas.

"Maduro will seinen Amtseid nicht vor dem Parlament, sondern vor dem obersten Justizrat ableisten. Jenen hat er mit seinen Leuten besetzt", erklärt Werz. Generell sei die politische Lage in Venezuela von Korruption, Vetternwirtschaft und Fehlkalkulation geprägt.

So listet "Transparency International" das südamerikanische Land im aktuellsten Korruptionsindex auf Platz 169 von 180 - mit nur einem Punkt Vorsprung vor Nordkorea.

Auch um die Pressefreiheit ist es schlecht bestellt: Beim Ranking von Reporter ohne Grenzen landet Venezuela abgeschlagen auf Platz 143 von 180.

Früher wohlhabende Öl-Nation

Aber wieso stürzt das einst prosperierende Venezuela immer tiefer ins Chaos? Was erklärt den Wandel von der Erdölmacht zum Hungerstaat und welche Rolle spielt Nicolás Maduro dabei?

"Venezuela gehörte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den wohlhabendsten Ländern Südamerikas und war politisch ausgesprochen stabil", erinnert Experte Werz. Um die aktuelle Krise zu verstehen, sei ein Blick in die Vergangenheit notwendig:

"Bereits in den 80er-Jahren kam es zu einer Wirtschaftskrise. Der Ölpreis fiel damals stetig und es gab keine Wirtschaftszweige, mit denen die sinkenden Einnahmen ausgeglichen werden konnten", erläutert Werz.

Hugo Chávez - der Vorgänger des nun amtierenden Maduros - kritisierte die regierenden Parteien scharf und warf ihnen Korruption und Misswirtschaft vor.

Sozialistische Ausrichtung unter Chávez

"Chávez profitierte damals von der politischen Situation. Es kam zur sogenannten bolivarischen Revolution. Mit der von ihm ausgerufenen Fünften Republik begann Chávez ab 2005 Venezuela sozialistisch auszurichten", so Werz. Heute zeige sich: Die Fünfte Republik war noch ineffizienter als ihre Vorgängerregierung.

"Voluntaristische und überzogene Wirtschaftsvorstellungen gepaart mit strukturellen Schwierigkeiten stürzten Venezuela unter Chávez immer weiter ins Chaos", erläutert der Experte.

Stets hätte die venezolanische Politik vor der Frage gestanden, wie man die Einnahmen aus dem Erdölverkauf produktiv in die Wirtschaft investieren könne, Chavez habe sich aber gehörig verkalkuliert und kein nachhaltiges Konzept gehabt.

Die meisten Ölländer sind keine Demokratien

Werz macht auf folgende Tatsache aufmerksam: "Bis auf wenige Ausnahmen sind die meisten reichen Ölländer keine Demokratien." Erdöl sei keine nachhaltige Ressource, oft sorge ein reiches Vorkommen für Korruption und Klientelpolitik.

"Venezuela hatte durch das Öl immer Einnahmen und bindet damit aktuell etwa ein Drittel der Bevölkerung in Form einer Günstlingswirtschaft ein", sagt er weiter. Ein Polster für die Zukunft anzulegen sei nie gelungen.

"In Venezuela sagt man, Öl sei eine schlecht wachsende Pflanze", so Werz. Der im Jahr 1936 ausgegebene Leitsatz das "Erdöl auszusäen" sei nie aufgegangen. Für ihn gilt deshalb: "Die Kombination aus Ölland und Staatssozialismus ist schuld an der aktuellen Misere."

Fortsetzung der chávistischen Linie

Und Maduro? Wie begegnet er Hyperinflation, zusammengebrochenem Gesundheitssystem und immer weiter steigender Kriminalität?

"Für Maduro ist die Bevölkerung in Anhänger und Gegner geteilt. Fast zehn Prozent der Venezolaner haben bereits das Land verlassen, der Nachbar Kolumbien rechnet mit einer weiteren Million Flüchtlingen", beobachtet Werz.

Der Linksnationalist Maduro wolle das bolivarisch-chávistische Projekt weiterverfolgen. Der Name "bolivarische" Revolution geht zurück auf den südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar, der Venezuela von der spanischen Kolonialherrschaft befreite.

"Kandidat der zweiten Reihe"

"Eine Wiederherstellung der Demokratie ist mit Maduro nicht denkbar", urteilt Werz. Dabei hatten viele Beobachter dem 56-Jährigen gar nicht zugetraut, dass er sich wieder so stabilisiert.

Werz bemerkt: "Maduro war zwar bereits unter Chávez Außenminister und Vizepräsident, galt aber trotzdem eher als unscheinbar und als ein Kandidat aus der zweiten Reihe."

Maduro habe sich zunächst als Leibwächter von Chávez hervorgetan und sei ihm in allen Punkten gefolgt. "Dass er sich so lange hält, schien aber unrealistisch", meint Werz.

Regimewechsel vorerst nicht in Sicht

Die Prognose für das fünftbevölkerungsreichste Land auf dem Kontinent ist schwierig. "Die Opposition bezeichnet Maduro als Diktator, fordert eine Übergangsregierung und wirft ihm Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor", sagt Werz. Die Opposition habe 2019 als "ihr Jahr" ausgegeben.

Ein Regimewechsel und eine demokratische Wiedereroberung erscheinen indes dennoch weit entfernt.

"Denn die Opposition ist selbst teilweise gespalten, ein geeigneter Übergangskandidat ist nicht in Sicht", kommentiert der Politikwissenschaftler .

Die Generäle, die vom Verteilungssystem durch die Öleinnahmen profitieren, dürften sich kaum an einem Regimewechsel beteiligen.

Außenpolitische Pulverfässer

Als wäre das alles nicht genug, sind bereits die nächsten Spannungen absehbar: Das Nachbarland Brasilien hat seit Jahresbeginn mit dem Rechtskonservativen Jair Bolsonaro einen neuen Staatspräsidenten - und mit dem ist sich Maduro gar nicht grün. Die eigentlich engen politischen Beziehungen sind derzeit unterbrochen.

Auch mit den USA ging Venezuela zuletzt immer wieder auf Konfrontation. Zur Gefahr der wirtschaftlichen Implosion gesellen sich also außenpolitische Pulverfässer.

Venezuelas Gegenwart ist besorgniserregend und macht wenig Mut, dass sich das in naher Zukunft ändern könnte.

Über den Experten:
Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Nikolaus Werz studierte Germanistik, Geschichte und Politische Wissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Ein Forschungsaufenthalt führte ihn an das Institut für Entwicklungsstudien in Venezuela. Von 2005 bis 2007 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP).

Verwendete Quellen:

  • Reporter ohne Grenzen: "Pressefreiheitsranking Venezuela"
  • Auswärtiges Amt: "Venezuela: Reise- und Sicherheitshinweise"
  • Spiegel online: "Fünf Nullen weniger auf den Scheinen - Händler schließen Läden"
  • faz.net: "Die letzte ihrer Art"
  • Transparency.de: "Korruptionsindizes"
  • Statistiken zur Ölförderung/Reserven
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