Nach dem Urteil gegen die 28-jährige Studentin Lina E. und drei Mitangeklagte wegen Angriffen auf Rechtsextreme warnen Bundesinnenministerin Nancy Faeser und der Verfassungsschutz in Thüringen davor, dass Linksextremisten zunehmend Gewalt anwenden. Doch die Statistiken der letzten Jahre sprechen eher gegen diese These.

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Der Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes hat vor einer zunehmenden Radikalisierung der linken Szene gewarnt. "Wir erleben bei Linksextremisten eine wachsende Radikalisierung und Akzeptanz von brutalster Gewalt", sagte Verfassungsschutz-Chef Stephan Kramer dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit Bezug auf das Urteil gegen die Linksextremistin Lina E. "Diese Akzeptanz beinhaltet Gewalt gegen Personen mit dem Ziel, sie einzuschüchtern. Und sie gilt politischen Gegnern ebenso wie Vertretern des Staates."

Das Oberlandesgericht Dresden verurteilte die aus Kassel stammende Studentin Lina E. am Mittwochvormittag wegen mehrerer Angriffe auf Rechtsextremisten zu fünf Jahren und drei Monaten Gefängnis. Drei mitangeklagte Männer erhielten Haftstrafen von bis zu drei Jahren und drei Monaten. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Angeklagten zwischen 2018 und 2020 an mehreren Überfällen auf tatsächliche und vermeintliche Neonazis in Wurzen, Leipzig und im thüringischen Eisenach beteiligt waren oder diese zumindest unterstützten. Mehrere Menschen wurden dabei teils schwer verletzt.

Kramer bezeichnete das Urteil als "wichtiges Signal des Rechtsstaates". Es zeige, dass dieser konsequent gegen Straftaten vorgehe. Ähnlich hatte sich am Mittwoch Bundesinnenministerin Nancy Faeser geäußert. "In linksextremistischen Gruppen sind Hemmschwellen gesunken, politische Gegner auch mit äußerster Brutalität anzugreifen", sagte die Politikerin in Bezug auf das Urteil. "Im demokratischen Rechtsstaat darf es keinen Raum für Selbstjustiz geben", hieß es in einer Mitteilung. Kein Ziel rechtfertige politische Gewalt.

Faeser mahnte, die Radikalisierungs- und Gewalt-Spirale dürfe sich nicht weiterdrehen. "Unsere Sicherheitsbehörden haben die gewaltbereite linksextremistische Szene sehr genau im Blick und werden weiter konsequent handeln", hieß es. Die Behörden würden zudem die linksextremistische Szene in den kommenden Tagen und Wochen weiter in den Fokus nehmen.

Zahl der von links motivierten politischen Straftaten nahm 2022 deutlich ab

Doch kann man die These von Faeser und Kramer, dass sich die extreme Linke derzeit radikalisiert, tatsächlich so stehen lassen? Konkrete und belastbare Zahlen aus dem Jahr 2023 liegen dazu nicht vor. Es ist also durchaus möglich, dass Linksextreme zuletzt deutlich mehr Straftaten begingen, mehr auf Gewalt setzten und radikaler agierten. Aber zumindest die offiziellen Zahlen zu politisch motivierter Kriminalität des Bundesinnenministeriums für das vergangene Jahr zeichnen kein so klares Bild einer Radikalisierung.

Betrachtet man die Zahl der politischen Straftaten aus 2022, wurden aus dem linken Spektrum mit 6.976 Fällen sogar rund 31 Prozent weniger Straftaten verzeichnet als noch 2021. Über alle Ideologien hinweg lagen rechtsextremistische Straftaten 2022 deutlich an der Spitze. Insgesamt wurden hier 23.493 Straftaten erfasst. Das ist ein Plus von 6,96 Prozent im Vergleich zu 2021.

Mit einem Anteil von mehr als 27 Prozent stellen sogenannte "Propagandadelikte" die häufigste Form politischer Straftaten 2022 dar. Darunter fasst das Innenministerium etwa das "Verbreiten von Propagandamitteln oder Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen". Diesbezüglich wurden aus dem rechten Spektrum 14.132 Fälle (+15,32 Prozent) und aus dem linken 85 Fälle (-32,54 Prozent) verzeichnet.

Der Extremismusforscher Hendrik Hansen von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung gab im Interview mit dem ZDF dabei zu bedenken: "Propagandadelikte gibt es nur im Rechtsextremismus". So sei das Zeigen "einer Hakenkreuzfahne oder eine Hakenkreuzschmiererei" ein solches Delikt. "Wenn sie einen roten Stern irgendwo hinmalen, als Zeichen für Kommunismus, das ist keine Straftat. Insofern wird das nicht als solche verfolgt." Deswegen gebe es "immer automatisch eine höhere Zahl an Straftaten im Bereich der rechtsextremistisch, politisch motivierten Kriminalität als im Linksextremismus."

2022 so wenig linke Gewalttaten wie seit Jahren nicht

Aber auch wenn man sich die Anzahl linker Gewalttaten aus dem Bericht ansieht, ist zumindest kein sprunghafter Anstieg, wie es die These der Radikalisierung vermuten lassen würde, zu sehen. Tatsächlich ist die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten 2022 um rund 30 Prozent auf 842 Fälle gesunken. Das ist der niedrigste Wert in den vergangenen zehn Jahren. Bei Gewalttaten aus dem rechten Spektrum stieg die Fallzahl hingegen um rund 12,3 Prozent auf insgesamt 1.170 Fälle.

Im Zeitverlauf würde sich laut Hansen aber auch ergeben, dass die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten im Schnitt "regelmäßig ungefähr auf dem Niveau ist von rechtsextremistischen Gewalttaten." In den vergangenen zehn Jahren lag der Durchschnittswert linker Gewaltdelikte mit rund 1.520 Fällen pro Jahr dem Bericht des Bundesinnenministeriums zufolge sogar deutlich höher als der aus dem rechten Spektrum (rund 1.163 Fälle pro Jahr).

Allerdings ist der Durchschnittswert der linksextremistischen Gewaltdelikte in der zweiten Hälfte der betrachteten zehn Jahre deutlich niedriger als der in der ersten Hälfte (rund 1.193 zu 1.848). Auch dieses Detail spricht nicht dafür, dass sich die linke Szene zuletzt zunehmend radikalisierte.

Mit Material der dpa und der afp

Verwendete Quellen:

  • Deutsche Presse-Agentur
  • Bericht des Bundesinnenministeriums: Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022
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