• In der Ukraine steht der Winter vor der Tür, Temperaturen von minus 20 Grad sind keine Seltenheit. Die Situation für die Soldaten hängt entscheidend davon ab, wie sich das Wetter nun gestaltet.
  • Wechseln sich Niederschlag und eisige Temperaturen ab, hat die Ukraine ein entscheidendes Problem.
  • Militärexperte Gustav Gressel erklärt, welche Hürden und Hemmnisse die Ukraine nun nehmen muss. Und in welcher Lage es besser dastünde.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Während hierzulande einige mit Vorfreude auf die kalte Jahreszeit blicken und sich Schnee zum Rodeln, zugefrorene Seen zum Schlittschuhlaufen und Minusgrade für die Weihnachtsstimmung wünschen, sieht die Situation in der Ukraine anders aus. Hier blicken die Kriegsparteien mit Sorge auf den anstehenden Winter.

Man weiß: die letzten Tage des warmen Spätsommers sind schon längst gezählt, nun könnten Überflutungen, Matschböden und eisige Minusgrade folgen. Tiefsttemperaturen von unter minus zehn bis minus fünfzehn Grad gehören zur Normalität. Das Wetter – es ist ein nicht zu vernachlässigender Kriegsfaktor, den beide Kriegsparteien bei ihren strategischen Überlegungen berücksichtigen müssen.

Temperaturen von minus 20 Grad

Beobachter hatten schon im Sommer einen Rückgang der russischen und ukrainischen Kriegsaktivitäten erwartet, weil die Wetterlage große Offensiven immer weiter erschweren könnte. Meteorologen rechnen mit kräftigen Regenschauern sowie Sturm- und Gewitterereignissen.

Dabei bleibt das Wetter aber ein Faktor, der nicht mit Sicherheit kalkulierbar ist. Antworten auf Fragen wie "Wie tief fallen die Temperaturen? Wie viel regnet es? Und wie unwegsam wird das Gelände in der Folge sein?" sind bestenfalls vage.

"Insgesamt kann man sagen, dass die Winter immer milder werden", sagt Militärexperte Gustav Gressel. Wochen, in denen Temperaturen von unter minus 20 Grad herrschten, würden im Vergleich der Jahre immer seltener. "Es sind vermutlich nur noch wenige Wochen im Januar mit so niedrigen Temperaturen – anstatt wie früher von Ende Dezember bis in den Februar hinein", sagt Gressel. Die Zeit, in der die Temperaturen zu jeder Tageszeit unter 0 Grad liegen würden, würden immer kürzer werden.

Erst nass, dann gefroren

"Der Boden friert deshalb nicht so stark durch, wie es in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war. Er weicht im Frühjahr dementsprechend auch nicht so stark auf", erklärt Gressel.

Viele der Effekte des russischen Winters, von denen manche Großeltern noch berichten könnten, seien mittlerweile nicht mehr so stark vorhanden.

"Die Zeit, in der die Temperaturen tagsüber über dem Gefrierpunkt liegen und nachts unter den Gefrierpunkt fallen, wird größer", sagt Gressel weiter. Für die Soldaten bedeute das, dass der Boden nicht mehr komplett durchfriere, sondern tagsüber zumindest antaue.

"Tagsüber erfolgt Niederschlag in Form von Regen und nachts friert es wieder", erklärt Gressel. Aus seiner Sicht keine guten Voraussetzungen für Soldaten. "Tagsüber dringt das Wasser überall ein – in die Unterkünfte, die Stellungen, die Kleidungen und nachts friert es.

Wegesituation beeinflusst

Das ist unkomfortabler, als wenn die Temperaturen dauerhaft unter dem Gefrierpunkt liegen", sagt er. Schließlich isoliere nasse Kleidung nicht so gut wie trockene Kleidung. "Wenn immer Minusgrade herrschen, bleibt die Kleidung trockener. Obwohl es kälter ist, ist das subjektive Kälteempfinden und Auskühlen lange nicht so hoch", analysiert er.

Auch für die Fahrzeuge ist die Wettersituation entscheidend. "Radfahrzeuge versinken in aufgeweichtem Boden relativ schnell", sagt Gressel. Die Ukraine habe im Vergleich zu Russland deutlich mehr Radfahrzeuge, weil sie aus dem Westen sehr viele Radfahrzeuge überlassen bekommen habe. "Sie wurden in Gebieten wie Mali, Afghanistan und Irak eingesetzt, wo das ausgeprägte Aufweichen des Bodens kein Problem war", erklärt Gressel. Bodendruck sei in diesem Terrain nie ein Problem gewesen, für die Ukraine werde es das aber nun.

Bessere Lage bei tiefen Temperaturen

"Die Fahrzeuge dürften vermehrt stecken bleiben", schätzt Gressel. Der Mangel an Kettenfahrzeugen sei hemmend für die ukrainische Armee. Das Wetter könne auch für die Logistik ein Problem darstellen. "Die Munitions-LKW müssen allerdings nicht durchs Gelände, sie brauchen nur befahrbare und asphaltierte Straßen, davon gibt es ausreichend", kommentiert Gressel.

In der komplett kalten Jahreszeit sieht Gressel für die Ukraine bessere Chancen für Angriffe. "Das Laub ist weg und man sieht mit Drohnen die Stellungen relativ gut", erklärt er. Beheizte Stellungen seien außerdem mit Wärmebildkameras deutlich erkennbar, weil sie einen signifikanten Temperaturunterschied im Vergleich zur Umgebung hätten. Über tiefgefrorene Böden könne man zudem mit allen Fahrzeugen fahren. "Flüsse haben in der Regel einen niedrigen Pegelstand und eine niedrige Fließgeschwindigkeit. Sie sind einfacher zu überwinden", ergänzt Gressel.

Russisches Militär soll Gefallene auf Mülldeponie entsorgt haben

Das russische Militär soll gefallene Soldaten auf einer Mülldeponie im ukrainischen Cherson entsorgt haben. Davon berichten Einwohner der Stadt und Arbeiter der Deponie.

Experte: "Viel kann vom Wetter abhängen"

Er gibt zu: "Viel kann vom Wetter abhängen". Wenn es zwei Wochen schweren Regen gebe, sei der Boden weich und alles versinke im Schlamm. Es könne aber auch einen trockenen Frühling geben. "Es hängt also davon ab, wie sich die Wettersituation dann tatsächlich darstellt", meint Gressel. Er hält das Thema im Westen allerdings für überbewertet.

"Größer als die Winterproblematik sind operative, taktische und logistische Gegebenheiten", ist er sich sicher. Die russische Armee mobilisiere aktuell noch einen Großteil ihrer Kräfte. "200.000 bis 250.000 Soldaten sind in Russland noch in Aufstellung und Ausbildung. Sie werden im Dezember an die Front gehen, das wird den Raum zum Manövrieren für die Ukrainer eng machen", meint Gressel. Für die Ukrainer erschwere sich auch die Situation nach einem gelungenen Durchstoß, weil einfach mehr Kräfte da seien.

Hürden und Hemmnisse abseits des Wetters

Als weiteres Hemmnis sieht Gressel den Munitionsmangel. "Bei der Artillerie hat sich die Situation durch die Lieferung von Nato-kompatiblen Geschützen schon verbessert und bei der Fliegerabwehr wird noch westliches Gerät in den kommenden Wochen geliefert", schränkt er ein. Ein Problem stellten aber Kampfpanzer dar.

"Sie sind wichtig für die Offensive und die Defensive. Den Ukrainern geht die Munition bei sowjetischen Kalibern aus", sagt Gressel. Im Westen werde nicht so viel produziert, dass man ausreichend liefern kann. "Alles, was verfügbar und verkäuflich ist, ist eigentlich schon ausverkauft. Wir kommen hier langsam in kritische Bereiche", warnt der Experte.

Weltgesundheitsorganisation warnt

Die Lieferung von weiteren sowjetischen Panzern des Typs "T72" aus Nato-Beständen helfe wenig, wenn die Munition dafür nicht vorhanden sei. "Kampfpanzer westlicher Bauart zu liefern, scheint politisch aktuell nicht drin zu sein", kommentiert Gressel. Putins Truppen sagt man derweil einen Mangel an geeigneter Winterausrüstung nach. Dass der Krieg über den Winter hinausgehen wird, gilt inzwischen als so gut wie ausgemacht.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) macht in Bezug auf den anstehenden Winter noch auf ein weiteres Problem aufmerksam: die mangelnde Strom- und Gesundheitsversorgung. Die kalte Jahreszeit könnte für viele Ukrainer todbringend sein und das nicht nur durch russische Angriffe. Zwar sind die Ukrainer die eisigen Temperaturen eigentlich gewöhnt, doch die Gesundheitseinrichtungen sind nicht wie sonst aufgestellt und vielerorts fehlen Heizungen. Gleichzeitig sind die Menschen anfällig für Atemwegserkrankungen, Herzinfarkte und Gehirnschläge.

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Über den Experten: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.




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