• Wenn Russland die Nato angreifen sollte, dann vermutlich hier: an der polnisch-litauischen Grenze, dem sogenannten Suwalki-Korridor - der einzigen Landverbindung zwischen dem Baltikum und dem restlichen Bündnisgebiet.
  • Wieso ist der Ort von so hoher strategischer Bedeutung? Welche Szenarien sind denkbar? Politikwissenschaftler Tobias Fella gibt Antworten.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Grüne Mischwälder, saftige Wiesen, vereinzelte Seen und Ackerlandschaften: Der sogenannte Suwalki-Korridor, der Polen und Litauen verbindet, wirkt wie ein friedlicher Fleck Erde. Doch geopolitisch ist die Grenzregion derzeit hochbrisant. Wenn Russland die Nato angreifen würde, dann aller Wahrscheinlichkeit nach hier, an der strategisch kritischsten Stelle der Nato.

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"Die baltischen Staaten sind geopolitisch exponiert. Der Suwalki-Korridor stellt die einzige Landverbindung zum restlichen Bündnisgebiet dar", sagt Politikwissenschaftler Tobias Fella.

Gleichzeitig trennt er die russische Exklave Kaliningrad und Belarus voneinander. Für das ganze Baltikum wichtige Straßen, Bahn- und Stromtrassen sowie eine Gas-Pipeline führen hier entlang.

Russland könnte das Baltikum abriegeln

"Wollte Russland die Nato angreifen, wäre hier tatsächlich die beste Möglichkeit", sagt Fella. Zu befürchten sei dann, dass Russland das Baltikum über Kaliningrad und Belarus abriegeln könnte. "In Kaliningrad ist die russische Ostsee-Flotte stationiert, außerdem Flugabwehrsysteme und Iskander-Raketen, die man mit Atomsprengköpfen ausstatten könnte", sagt Fella.

Wenn Russland damit eine eiserne Glocke über die Region lege, könne die Nato dem Baltikum nur sehr schwer zur Hilfe kommen. Über Kaliningrad würde Russland versuchen, westliche Truppen zu binden und davon abzuhalten, dem Baltikum zur Hilfe zu kommen. Die Angst vor einer russischen Aggression ist in Estland, Lettland und Litauen deshalb besonders groß.

Kosten für Eingreifen wären hoch

"Es entstünde eine Art West-Berlin-Situation, in der das Gebiet nur mit höchsten Kosten freigekämpft und unterstützt werden könnte", sagt der Experte. Es stelle sich die Frage, ob die Nato dann trotz des Bündnisfalls eingreife.

"Russland hat a2/aD-Fähigkeiten", erinnert er. Hinter der Abkürzung steckt das sogenannte anti-access/area denial, was bedeutet, dem Gegner den Zugang und die Bewegung in einem Operationsgebiet zu verwehren oder zumindest zu erschweren. "Die Kosten für ein Eingreifen werden somit nach oben getrieben", erklärt Fella.

Geopolitisches Handicap

Der Suwalki-Korridor sei für schweres Gerät nicht leicht zu passieren, umso bedeutender seien Truppenanlandungen über die Ostsee. "Das Baltikum hat ein geographisches Handicap: Es ist quasi eine Nato-Halbinsel. Außerdem sind die Länder klein und haben keine strategische Tiefe", sagt Fella.

Es gebe ein massives Kräfteungleichgewicht in der Region. "Die Nato und das Baltikum wissen um diesen Zustand", sagt Fella. Zur Abschreckung habe die Nato ihre Präsenz in der Region bereits hochgefahren. Seit mehreren Jahren sind im Baltikum Nato-Kampfgruppen stationiert, aber der Ukraine-Krieg hat die Bedrohungslage im Baltikum verschärft.

Kremlsprecher Peskow: "Werden dem Westen nie wieder vertrauen"

Vier Monate nach dem Überfall auf die Ukraine hat Russland die Beziehungen zum Westen als langfristig beschädigt bezeichnet. "Ja, es wird eine lange Krise werden", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow in einem in der Nacht zum Dienstag ausgestrahlten Interview des US-Fernsehsenders MSNBC. "Wir werden dem Westen nie wieder vertrauen." Russland erhebt seit Beginn seines Kriegs gegen die Ukraine immer wieder Vorwürfe gegen westliche Staaten - etwa wegen der militärischen Unterstützung für das angegriffene Land.
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Russisches Militär durch Ukraine-Krieg gebunden

Vor dem Nato-Gipfel Ende Juni haben die baltischen Staaten deshalb eine weitere Aufstockung der jeweils rund 1.500-köpfigen Verbände gefordert. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock war bereits im Baltikum unterwegs. "Die Balten wollen von Abschreckung zu effektiver Verteidigung", sagt Fella. Sie fürchteten, Russland könne Fakten schaffen, die nur schwer rückgängig zu machen seien.

"Vor dem Krieg haben Experten recht klar gesagt, dass russische Kräfte die Länder schnell innerhalb von wenigen Tagen überrennen könnten; jetzt fragt sich natürlich, was Russland parallel zum Ukraine-Krieg noch zur Verfügung hätte", sagt Fella. Durch den Krieg sei das russische Militär aktuell gebunden.

Testet Russland die Nato?

"Wenn es in der Ukraine aber nicht gut läuft, wäre es denkbar, dass Russland die Nato hier am Suwalki-Korridor testet", sagt Fella. Ist die Nato bereit für einen dritten Weltkrieg? Wie fragmentiert und handlungsfähig ist sie? Antworten auf solche Fragen könnte Russland hier finden.

"Bei einem Angriff hat die Nato nur schlechte Optionen: Von Russland geschaffene Fakten akzeptieren oder den Bündnisfall für eine Rückeroberung ausrufen und eine Weltkriegsgefahr in Kauf nehmen", sagt Experte Fella.

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Sorge vor Eskalation im Grenzgebiet

Auch ein hybrides Szenario hält er für denkbar. "Es gibt bedeutende russische Minderheiten im Baltikum, vor allem in Lettland und Estland. Russland könnte versuchen, diese Gruppen zu aktivieren", erklärt er. Sollte Russland die Eskalationskarte Suwalki-Korridor ziehen, sei mit einem Szenario zu rechnen, das den Ukraine-Krieg weit übertreffen würde.

"Wenn es Russland gelingen würde, das Baltikum vom Nato-Bündnisgebiet abzutrennen, stünde man kurz vor einem Krieg West gegen Ost", sagt er. Die neusten Entwicklungen haben die Sorge vor einer Eskalation im Grenzgebiet angeheizt: Litauen hat angekündigt, den Transitverkehr nach Kaliningrad zu stoppen, der Kreml drohte bereits mit Gegenmaßnahmen.

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Über den Experten:
Tobias Fella ist sicherheitspolitischer Referent des Hamburger Haus Rissen. Zuvor war er Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und der Stiftung Wissen und Politik (SWP). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die russische Außen- und Sicherheitspolitik, neue Militärtechnologien und der Formwandel des Krieges sowie soziale Medien und Desinformationskampagnen.
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