• Mit Putins Angriff auf die Ukraine ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Das Entsetzen ist groß, die Hilfsbereitschaft für die ukrainischen Flüchtlinge ungesehen.
  • Doch Putins Agieren ist in der Geschichte kein Einzelfall: Schon vor ihm haben Machthaber Großmachtphantasien verfolgt und sind mit Repression und Zensur gegen das eigene Volk vorgegangen.
  • Politikwissenschaftler Herfried Münkler analysiert, wo es historische Parallelen gibt.

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Das Sprichwort ist bekannt: "History repeats itself", zu Deutsch: "Geschichte wiederholt sich". Beispiele dafür gibt es zuhauf: Gescheiterte Militärmanöver, die wiederholt werden, finden sich ebenso wie immer wieder unterschätzte Naturgewalten. Andere sagen: "Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich". Welcher Auffassung man auch ist, ein Blick in die Geschichtsbücher lohnt auch bei der Analyse aktueller politischer Ereignisse.

"Hätte der Westen schon früher auf Putins Agieren nach Außen geschaut und seinen Blick nicht nur auf die inneren Verhältnisse in Russland gerichtet, hätte man schon früher erkennen können: Putin ist ein Imperialist, der im Gewand eines Nationalisten auftritt", sagt Politikwissenschaftler Herfried Münkler.

Putin, der Imperialist

Putins Handeln im zweiten Tschetschenienkrieg, im Georgienkrieg, bei der Annexion der Krim, bei seiner Einmischung im Syrienkrieg oder dem Einsatz von Söldnern in Nordafrika offenbare: "Er will das wiederhaben, was einmal zu dem als eigen markierten Raum gehörte – sei es das russische Reich oder die Sowjetunion", so Münkler. Putin agiere imperial, bediene sich aber immer wieder nationalistischer Erzählungen und Ressentiments, um sein Handeln zu legitimieren.

"Er ist getrieben von imperialem Phantomschmerz und nicht durch äußere Bedrohungen", betont Münkler. In der Geschichte sei er mit diesem starken Rückbezug auf das Vergangene keineswegs allein.

"Das verbindet ihn mit einer Reihe an Akteuren der Zwischenkriegszeit von 1919 bis 1939", sagt Münkler und erinnert an Polen, Ungarn und Griechenland, die in dieser Zeit mehrere Kriege führten, um ein Großreich herzustellen. "Im großen Stil tat das in Italien Benito Mussolini mit der Vorstellung, das Römische Reich wiederherzustellen", so Münkler.

Der Experte stellt jedoch klar: "Ein Vergleich ist aber nie eine Gleichsetzung, aber man kann dabei ähnliche Merkmale feststellen." Und die gibt es auch zwischen Putin und Adolf Hitler. "Im Punkt aggressiver Revisionspolitik ähneln sich Putin und Hitler, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Putin ist zum Beispiel nicht mit von fanatischen Reden gekennzeichneten Auftritten vor großen Massen aufgefallen", sagt Münkler.

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Putin folgt keiner Ideologie

Außerdem sei es Hitler auch nicht nur um die Wiederherstellung des Deutschen Reiches oder von Teilen des Habsburger Reiches gegangen. "Hitler hatte eine antisemitische und rassistische Ideologie, die ihn darüber hinaus antrieb", erinnert Münkler. Bei Putin könne man eine solche Ideologie nicht feststellen, er sei an der Vergangenheit orientiert.

Beim Blick in die Geschichte stößt Münkler auf weitere Analogien: "Man kann bei Putin einen Gestus des Militärischen beobachten, den auch Napoleon III. aufwies", sagt der Experte. Dieser habe, wie Marx in seiner Bonapartismusanalyse schrieb, die französische Revolutionsparole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" durch die Schlagworte "Infanterie, Kavallerie und Artillerie" ersetzt. Auch jetzt gehe Putin mit enormer Brutalität in der Ukraine vor.

"Ebenfalls hat sich Napoleon III. auf Bauern und das Kleinbürgertum gestützt, die ihn bei Wahlen immer gewählt haben. Die letzten belastbaren Umfragen in Russland zeigten ebenfalls, dass Putins Anhänger vor allem in den ländlichen und nicht in den urbanen Räumen sitzen", sagt Münkler.

Noch eine Gemeinsamkeit gibt es: Napoleon III., auch bekannt als Louis Bonaparte, ließ das frivole Treiben der Reichen zu. "Das erinnert an die heutigen russischen Oligarchen." Sowohl Putin als auch Napoleon III. hätten "sich auch in gewisser Weise auf außenpolitische Abenteuer eingelassen, um Ruhm und Glanz einzufahren", so Münkler.

Feinde belügen wie einst Lenin

Gleichzeitig inszeniere sich Putin aber auch gelegentlich als neuer Zar. "Türöffner tragen bei seinen Auftritten Uniformen der Zarenzeit, bei Militärparaden gibt es hingegen eher die Inszenierungsschemata der UdSSR", analysiert Münkler. Sowohl das Zarentum als auch Teile der Geschichte der Sowjetunion seien Assoziationselemente und historische Legitimationen, die Putin brauche, um den Imperialanspruch Russlands deutlich zu machen.

Genau wie einst der Kommunist Wladimir Lenin orientiere sich Putin an der Maxime: "Feinde belügen und betrügen, nach innen mit brutaler Repression vorgehen", meint Münkler. Dass die diplomatischen Gespräche mit dem Westen nur Inszenierung waren und nie der wirklichen Lösungsfindung dienten, stelle Putin durch seinen Angriffskrieg unter Beweis. Gleichzeitig lasse er Widerstand brutal niederschlagen und zensiere die Medien.

"Aber Lenin hatte eine Vorstellung vom Licht am Ende des Tunnels. Seine Auffassung war, man müsse erst durch eine furchtbare Zeit gehen, um dann auf den lichten Höhen des Kommunismus und Sozialismus anzukommen. Das ist bei Putin so nicht erkennbar", sagt Münkler.

Dafür sieht er Bezüge in die neuere Geschichte: "Nach 1989 hieß es, die Zeit der Imperien sei vorbei, aber sie kehrt nun in unterschiedlicher Weise wieder zurück", sagt er. Beim Brexit hätten sich die Briten ebenfalls daran erinnert, einst ein großes Reich gewesen zu sein - und dann gemerkt, dass sie in der Europäischen Union nur ein Mitglied von vielen sind. Das sei imperiale Nostalgie, eher melancholisch als aggressiv.

Imperien leben wieder auf

"Gleichzeitig betreibt Erdogan eine neo-osmanische Politik in kleinen Schritten und erinnert sich daran, was das Osmanische Reich bis 1918 bedeutet hat. Die Chinesen bauen derweil mit wirtschaftlichen Mitteln ein Imperium auf", zählt Münkler weitere Beispiele auf.

Sein geplantes Imperium habe Putin allerdings schlecht abgesichert. "Seine Herrschaft ist fragil". Putin habe kein Politbüro um sich, keine ausgeformte Ideologie, und die Nachfolge sei nicht gesichert. Ein Nachfolger Putins könnte aus Sicht von Münkler allerdings nur aus zwei Gruppen kommen.

"Entweder aus den Reihen derjenigen, die wirtschaftliche Macht repräsentieren, also ein Oligarch. Oder aus dem Bereich der militärischen Macht – etwa ein hoher Offizier aus dem Generalstab", sagt Münkler.

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und militärischer Macht werde diese Nachfolgefrage entscheiden. Wenn sich Geschichte nicht in anderer Form wiederholt: Vielleicht sollte Putin sich in den Geschichtsbüchern auch einmal über demokratische Revolutionen belesen machen.

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