Naftali Fürst ist 1932 in Bratislava geboren und hat als Kind mehrere KZs überlebt. Er zog nach Israel, um endlich sicher zu sein. Am 7. Oktober 2023 bangte er um das Leben seiner Enkelin, während sie sich vor Hamas-Terroristen versteckte. Anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar veröffentlichen wir seine Geschichte erneut. Unser Redakteur hat sie Anfang November aufgeschrieben.

Ein Protokoll

"Es war ein Wunder, dass mein Bruder, meine Eltern und ich den Holocaust überlebt haben. Jetzt habe ich ein zweites Wunder erlebt: Meine Enkelin Mika ist den Terroristen der Hamas durch Glück entkommen.

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Am 7. Oktober, dem schwarzen Schabbat, war sie mit ihrem Mann und ihrer zweieinhalb Jahre alten Tochter im Kibbuz Kfar Azza in der Nähe des Gazastreifens. Als die Hamas den Ort überfiel, versteckten sie sich in einem Schutzraum.

Ohne Telefon, ohne Licht und ohne etwas zu Essen mussten sie dort einen Tag lang auf ihre Rettung warten. Sie konnten die Schüsse und die Schreie draußen hören. Sie hatten große Angst. Die Terroristen sind in das Haus ihrer Nachbarn eingedrungen und haben es mitsamt den dort lebenden Menschen verbrannt.

Wir wussten nicht, was mit meiner Enkelin passiert

Auch wir, Mikas Familie, hatten Angst. Wir wussten lange nicht, was genau vor sich geht. Was passiert mit Mika? Mit ihrem Mann Sephi und ihrer Tochter Netta? Wir haben gewartet und gezittert. Sonntagnacht hat die israelische Armee ihre Wohnung erreicht und sie konnten aus dem Kibbuz gebracht werden. Zu diesem Zeitpunkt haben sich immer noch Terroristen in dem Ort aufgehalten.

Sonntags um fünf Uhr morgens sind Mika und ihre Familie bei ihrer Mutter, meiner Tochter, in der Nähe von Tel Aviv angekommen. Sephis Eltern, die in Kfar Azza gelebt hatten, wurden von der Hamas ermordet – so, wie Dutzende Einwohner des kleinen Kibbuz.

Genau 19 Jahren zuvor, am 7. Oktober 2004, wurde Sephis Schwester bei einem Terroranschlag auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel umgebracht. Das war der Grund, warum er mit Mika nach Kfar Azza gekommen war: Sie wollten den Todestag zusammen mit seinen Eltern verbringen. Nun sind sie am selben Datum wie ihre Tochter ermordet worden.

Die Schoa ist 80 Jahre her. Ich hätte niemals gedacht, dass nach so langer Zeit meine Familie etwas derart Furchtbares erleben muss. Warum werden wir Juden so gehasst? Wir wollen nur leben. Wir wollen in Frieden mit unseren Nachbarn koexistieren. Aber man lässt uns nicht.

Als ich sechs war, begann für mich die Schoa

Auch meine Eltern, mein Bruder und ich haben nie jemandem etwas getan. Trotzdem wurden wir in Europa verfolgt. Ich bin 1932 in Bratislava geboren, das ab 1939 im Slowakischen Staat lag, der mit den Nazis verbündet war. Als ich sechs Jahre alt war, mussten wir aus unserer Wohnung raus und alles zurücklassen. Damals hat für mich die Schoa ("Katastrophe", hebräische Bezeichnung für den Holocaust) begonnen.

Im November 1944 wurden wir nach Auschwitz gebracht. Wir wussten, was in Polen passiert und dass wir in den sicheren Tod gehen. Aber das Schlimmste für uns war, dass wir dort von unseren Eltern getrennt wurden. In Auschwitz habe ich zahllose Tote gesehen. Ich habe gesehen, wie Menschen in den elektrischen Zaun gelaufen sind, um sich umzubringen.

Dann kam der Todesmarsch nach Buchenwald. Mein Bruder und ich mussten zu Fuß gehen bei Temperaturen von -25 Grad. Wir hatten Hunger und keine warme Kleidung. Wir versuchten, immer in den vorderen Reihen mitzulaufen. Wer ganz hinten war, wurde erschossen. Schließlich sperrte man uns in einen Waggon voller Schnee ein und zwei Tage später waren wir in Buchenwald. Nicht alle sind lebend aus dem Waggon herausgekommen.

Nach unserer Befreiung kehrten wir erst einmal nach Bratislava zurück. Dort trafen wir unsere Eltern. Wir vier hatten alle überlebt. Der gesamte Rest meiner Familie wurde umgebracht. Meine Eltern wollten sich in der Slowakei ein neues Leben aufbauen. Aber schnell erwies sich das als Illusion: Auch das neue kommunistische Regime war gegen die Juden.

Uns wurde klar, dass die Juden nur in Israel einen Platz haben und sind deshalb ausgewandert. Als wir im Februar 1949 dort ankamen, wurde noch geschossen. Direkt nach Ausruf seiner Unabhängigkeit war Israel von seinen arabischen Nachbarn angegriffen worden. Seitdem habe ich noch viele weitere Kriege erleben müssen.

Nach der Schoa habe ich 60 Jahre lang kein Deutsch gesprochen. Ich habe mir geschworen, nie mehr einen Fuß nach Deutschland zu setzen. 2005 kam dann die Einladung zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald – und ich bin hingegangen. Dort habe ich Deutsche getroffen, die keine Nazis waren. Nun bin ich regelmäßig in Deutschland und erzähle meine Geschichte. Auf Deutsch, meiner Muttersprache.

Ich bin besorgt über die Neofaschisten in Deutschland

Ich bin stolz, dass der deutsche Kanzler gerade in Israel war, um seine Unterstützung zu zeigen. Deutschland ist für uns Israelis in diesen Zeiten eine Hoffnung. Von dort erreichen mich viele gute Wünsche. Aber ich bin besorgt über das, was die Neofaschisten in Deutschland machen. Bei der Stichwahl im thüringischen Nordhausen hat sich das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos, dessen Präsident ich bin, gegen den AfD-Kandidaten ausgesprochen. Ich bin sehr froh, dass er verloren hat.

Die aktuelle israelische Regierung ist eine Katastrophe. Sie erlässt Gesetze, die unsere Demokratie gefährden. Die Menschen in den Kibbuzim, die von der Hamas ermordet wurden, hat sie nicht geschützt. Wir haben geglaubt, dass die israelische Armee stark und immer bereit ist! Jetzt wurden wir von diesem schrecklichen Angriff überrascht.

Aber wo sollte ich sonst hin? Nach Deutschland oder in die Slowakei, wo es auch heute noch so viele Antisemiten gibt? Nein. Wir Juden haben kein anderes Land als Israel. Wir haben kein anderes Land. Wir müssen weiter an diesem Staat arbeiten. Ein demokratisches Israel, das für Menschlichkeit, Frieden und Stärke steht. Das ist mein Wunsch."

Aufgezeichnet von Joshua Schultheis

Zur Person:

  • Naftali Fürst ist 1932 in der Tschechoslowakei geboren. Ab 1939 gehörte die Stadt zum Slowakischen Staat, der mit Nazideutschland verbündet war. Fürst überlebte mehrere Konzentrationslager, darunter Auschwitz und Buchenwald. Mit seinen Eltern und seinem Bruder kam er 1948 nach Israel. Fürst gründete eine Familie und arbeitete als Fotograf, Fahrlehrer und Manager, bis er in den Ruhestand ging. Er lebt in Haifa und ist Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos.

Redaktioneller Hinweis

  • Dieser zuletzt im November 2023 veröffentlichte Artikel wurde anlässlich des Holocaust-Gedenktages überarbeitet und aktualisiert.
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