Seit Jahren pöbelten die Rechtsextremen gegen ihn. Am zweiten Juni erschoss wohl - nach derzeitigem Ermittlungsstand - einer von ihnen Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses. Haben Polizei und Verfassungsschutz, wie einst bei den Anschlägen des NSU, einmal mehr die von rechten Netzwerken ausgehende terroristische Bedrohung unterschätzt? Oder liegt die Gefahr an ganz anderer Stelle?

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Einige Jahre sind vergangen, seit der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke am 14. Oktober 2015 auf einer Bürgerversammlung in seinem Bezirk sprach. Es ging um die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Lohfelden. Lübcke verwies auf christliche Werte, die in seinen Augen Deutschland verpflichteten, Menschen in Not zu unterstützen.

Als Pöbler aus dem Pegida-Umfeld immer wieder mit Parolen wie "Scheiß Staat" die Versammlung störten, sagte Lübcke einen Satz, der ein lautes Echo im rechten politischen Lager auslöste: "Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen."

Möglicherweise hat der CDU-Politiker diesen Satz dreieinhalb Jahre später mit seinem Leben bezahlt: Die Ermittlungen deuten darauf hin, dass er am 2. Juni – nach jahrelanger Hetze aus dem rechten Lager – von dem rechtsradikalen 45-jährigen Stephan E. erschossen wurde.

Noch lässt sich nicht sagen, ob E. als Einzeltäter handelte oder von Helfern unterstützt wurde, ob ihn ein Netzwerk nicht nur ideologisch, sondern auch praktisch unterstützt hat. Es nährt sich immer mehr der Verdacht, dass Stephan E. nicht allein gehandelt hat. Viele Fragen seien offen, sagt der Berliner Journalist, Buchautor und Rechtsextremismus-Experte Andreas Speit.

Es gelte zunächst zu klären, aus welchem Grund E. den CDU-Politiker ermordet habe. Wichtig sei auch, woher er die Waffe bekommen und wie er den Tatort ausgekundschaftet habe: "Hatte der Täter Unterstützung bei der Vorbereitung seiner Tat? Und woher wusste er, wann er Walter Lübcke auf dessen Terrasse antreffen würde?", fragt Speit.

12.700 gewaltorientierte Rechtsextremisten

Ob Ermittlungs- oder Einschätzungsfehler vorlägen, sei nach dem momentanen Stand der Ermittlungen nicht zu sagen, so Speit. "Verfassungsschutz und Polizei haben aus den Vorgängen um den 'Nationalsozialistischen Untergrund' (NSU) und dessen Morde und Anschläge dazugelernt." Die Behörden seien nicht mehr "blind auf dem rechten Auge", sondern schauten im rechten Milieu sehr genau hin.

Das ist nicht einfach angesichts des großen Gefahrenpotenzials der Radikalen: 12.700 "gewaltorientierte Rechtsextremisten" zählte der Verfassungsschutzbericht 2017, die Hälfte von ihnen in "parteiungebundenen Strukturen".

Doch ungebunden heißt nicht unorganisiert: Dieser Teil der Rechtsextremen kommt in sogenannten "Kameradschaften", in Netzwerken und Vereinen, teils in Nachfolgeorganisationen verbotener Vereine zusammen.

Schwachstellen attestiert der Experte den Behörden "im analytischen Bereich". So habe der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke in Kontakt mit der Terrorgruppe "Combat 18" gestanden, dem "bewaffneten Arm" des seit 2000 verbotenen Neonazi-Netzwerkes "Blood an Honour", das schon den NSU unterstützte.

Bei der Beobachtung und Analyse dieser Gruppen habe es in der Vergangenheit Unstimmigkeiten gegeben. Man müsse fragen, ob der Verfassungsschutz eventuell Erkenntnisse von eingeschleusten V-Leuten nicht genutzt habe. "Sollten die Behörden hier bagatellisiert haben", so Speit, "wäre das dramatisch".

Die Hetze fand nicht nur im Internet statt

Doch Speit weist auf andere Vorfälle hin, die sich als Reaktion auf Lübckes Rede im Jahr 2015 ereigneten – nämlich die Hetze gegen den Politiker, die sich nicht auf die sozialen Medien im Internet beschränkte.

Schon fünf Tage nach dem turbulenten Diskussionsabend im hessischen Lohfelden widmete sich der Schriftsteller Akif Pirinçci in einer Rede vor Pegida-Anhängern in Dresden dem Ereignis.

Im Zusammenhang mit Lübckes Äußerungen formuliert er den menschenverachtenden Satz, die Konzentrationslager der Nazis seien ja "leider derzeit außer Betrieb". Pirinçci wurde für diese Aussage ein Jahr später wegen Volksverhetzung verurteilt – doch seine Rede hat die Hetze gegen Lübcke angeheizt.

Ins gleiche Horn stieß die ehemalige CDU-Politikerin Erika Steinbach - von 1998 bis 2014 war sie auch Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, mittlerweile ist sie AfD-Unterstützerin: Sie verbreitete im Februar 2019 auf Facebook den Beitrag eines rechten Blogs, in dem es abermals um Lübcke ging.

Der Beitrag entfachte den Shitstorm gegen Lübcke von Neuem. Kommentare von Facebook-Lesern, die unter ihrem Beitrag zu Gewalt aufriefen und sogar Lübckes Ermordung forderten, löschte Steinbach nicht.

Entgrenzung zwischen bürgerlicher Mitte und Rechtsextremismus

Neben der konkreten kriminologischen Aufklärung aller Fragen rund um den Mord steht also auch ein Aspekt zur Debatte, den der Experte Speit als "rechtsextreme Gruppendynamik" klassifiziert. Es geht um die Frage, wie ein extremistisch-aggressives Umfeld dazu beiträgt, Täter wie Stephan E. zum Handeln anzustacheln und zu ermutigen.

"Der Verfassungsschutz", sagt Speit, sei "heute deutlich besser aufgestellt als zur Zeit des NSU-Terrors", vor allem habe die Behörde die interne Kommunikation verbessert. Wann ein einzelner Täter sich radikalisiere und zur Tat schreite, sei aber "auch bei gutem Willen nicht vorauszusehen".

Die "neue Dynamik" des Rechtsextremismus, von der Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang im Mai anlässlich einer Diskussionsveranstaltung sprach – weniger als drei Wochen vor dem tödlichen Anschlag auf Lübcke –, diese neue Dynamik scheint in Lübcke ein Opfer gefunden zu haben.

Von einer "Entgrenzung zwischen Extremisten und bürgerlicher Mitte" berichtete Haldenwang. Hier wieder klare Grenzen zu ziehen, kann wohl nur die Aufgabe der gesamten Gesellschaft sein – der Verfassungsschutz alleine wird das nicht leisten können.


Quellen:

  • Gespräch mit Andreas Speit
  • Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2017

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