Als wäre das Brexit-Chaos an sich nicht kompliziert genug, müssen sich ausländische Beobachter auch in das ungewöhnliche politische System Großbritanniens hineindenken. Eine Königin, die nichts darf – und um deren pro forma Handlungen dann doch gezankt wird, eine Verfassung, die nicht als eindeutiges Dokument existiert und rituelle Artefakte, die Rest-Europa in verständnisloses Staunen versetzen: Wie funktioniert die britische Politik eigentlich?

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Das Vereinigte Königreich rühmt sich damit, eine der ältesten Demokratien der Welt zu sein – gleichzeitig muss es sich den Vorwurf gefallen lassen, in vielen Bereichen an antiquierten Strukturen festzuhalten.

Großbritannien ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine parlamentarische Monarchie. Formal ist seit 1952 Königin Elisabeth II das Staatsoberhaupt und besitzt auf dem Papier umfangreiche Befugnisse. Sie beruft den Premierminister, kann die Regierung absetzen, ist Oberbefehlshaberin über die Streitkräfte und genießt Akteneinsicht in sämtlichen Regierungsgeschäften.

In der Praxis beschränken sich die politischen Mitwirkungsrechte des Monarchen heute jedoch auf Repräsentationsaufgaben. Die Regierungsgewalt konzentriert sich vor allem beim Premierminister, der de facto die Privilegien der Krone wahrnimmt. Er schlägt auch die Minister vor, die mit ihm zusammen das Regierungskabinett bilden.

Festhalten am leeren Schein der Monarchie

Auch wenn sich die Entscheidungsstrukturen geändert haben: Am äußeren traditionellen Anstrich halten die Briten eisern fest. So werden die Sitzungstage des Parlaments mit einer feierlichen Prozession eröffnet, bei der ein königlicher Zeremonienstab in der Mitte der Kammer platziert wird.

Getagt darf nur werden, so lange der Stab an seinem Platz ist. Es ist schon vorgekommen, dass Abgeordnete ihn aus Protest entwendet und dadurch erfolgreich eine Sitzungsunterbrechung erzwungen haben.

Ebenso verhält es sich mit den zeremoniellen Handlungen der Queen. Sie besitzt im politischen Tagesgeschäft faktisch keine Macht. Traditionsgemäß unterschreibt das Staatsoberhaupt die vom Parlament beschlossenen Gesetze. Von seinem formellen Einspruchsrecht hat seit 1707 kein Monarch mehr Gebrauch gemacht.

Dass die Rolle der Königin trotzdem sehr ernst genommen wird, zeigt sich im aktuellen Streit vor dem Supreme Court in London. Dabei geht es um die Frage, ob die Aussetzung des Parlaments, die Boris Johnson mit der formellen Zustimmung der Königin durchgesetzt hat, rechtmäßig ist.

Gegen diesen Schritt liegen mehrere Klagen mit jeweils unterschiedlicher Argumentation vor. Die Klage von schottischen Abgeordneten wird damit begründet, dass Johnson die Königin in die Irre geführt habe und sie ihre Zustimmung auf Basis einer Unwahrheit gegeben habe.

Verfassungsklage ohne Verfassung

Die Frage, ob bestimmte Abläufe verfassungsgemäß sind, ist im Falle Großbritanniens auch deshalb interessant, weil es als einziger europäischer Staat kein einzelnes Dokument mit einer ausformulierten Verfassung besitzt.

Mehrere unterschiedliche Quellen wie die Magna Charta von 1215, die Petition of Rights von 1628 und das Habeas-Corpus-Gesetz von 1679 dienen stattdessen als Verfassungsgrundlage.

Die Gesetze, die gemeinsam die Verfassungsgrundlage des Staates bilden, können mit einer einfachen Mehrheit im Parlament verändert werden. Diese flexible Handhabung liegt in der englischen Rechtstradition des Common Law begründet.

Diese orientiert sich an Präzedenzfällen. Konkrete Einzelentscheidungen bilden die Grundlage künftiger Rechtsprechung, während sich beispielsweise das deutsche Rechtssystem auf kodifizierte Regeln stützt, man also vom Allgemeinen aufs Konkrete schließt.

Alle Gewalt geht vom Parlament aus

In den meisten demokratischen Verfassungen ist festgelegt, dass der Volkswille die Basis der Staatsgewalt ist. In Großbritannien dagegen ist der Souverän das Parlament. Dieser Umstand ist auf die Glorious Revolution 1688-1689 zurückzuführen.

Der Protestant Wilhelm III. von Oranien erkaufte sich damals die Zustimmung des Parlaments für die Absetzung des katholischen Herrscherhauses der Stuarts und seine eigene Thronbesteigung damit, dass er dem Parlament umfassende Rechte zubilligte.

Damit wechselte die Staatsform Großbritanniens von der absolutistischen zur konstitutionellen Monarchie. Die britischen Bürgerinnen und Bürger wurden formal nie souverän, sondern sind weiterhin Untertanen der Königin.

Das Herzstück der britischen Politik ist das Parlament mit seinen beiden Kammern, dem Unterhaus und dem Oberhaus. Das Oberhaus, "House of Lords", wird heute als eine Übergangslösung zu einer demokratisch legitimierten Kammer angesehen. Seine Mitglieder sind nicht gewählt, sondern werden von den Parteien vorgeschlagen.

Zu den weltlichen Lords, den "Lords Temporal", kommen die "Lords Spiritual" hinzu, also die geistlichen Lords. Diese setzten sich aus Bischöfen und Erzbischöfen der Anglikanischen Kirche zusammen. Außerdem gibt es die "Law Lords", Richter, die geadelt und ins Oberhaus berufen werden.

Das Oberhaus gestaltet selbst keine Gesetze. Es nimmt lediglich zu den Entwürfen des Unterhauses Stellung. Sein stärkstes Instrument ist ein aufschiebendes Vetorecht, mit dem es ein Gesetzesvorhaben bis maximal ein Jahr verzögern kann.

Die eigentliche Gesetzgebung findet im Unterhaus, dem "House of Commons", statt. Hier sitzen sich die Abgeordneten der Regierung die die der Opposition gegenüber. Sie werden von zwei Linien am Boden getrennt, die in der Mitte zwischen den Bankreihen einen Abstand von zwei Schwertlängen erzeugen.

Die "Bianca-Linien" sind ebenfalls ein Relikt aus mittelalterlichen Zeiten und hatten den Zweck, Blutvergießen im Parlament zu verhindern.

Quellen:


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