Nie zuvor stand das Regime von Alexander Lukaschenko vor dem Kippen. In Belarus ist in diesem August aber alles anders. Drei Wege kristallisieren sich nun heraus, wie es in dem EU-Nachbarland weitergehen könnte.

Eine Analyse

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"Belarus ist aufgewacht." Mit diesen Worten hat die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja am Dienstag versucht, Europa für die politische Krise in ihrem Heimatland zu sensibilisieren.

"Wir sind nicht mehr die Opposition. Wir sind jetzt die Mehrheit. Die friedliche Revolution findet statt", sagte die 37-Jährige bei einer Anhörung im Außenausschuss des EU-Parlaments per Video-Schalte.

Tatsächlich gehen auch mehr als zwei Wochen nach der Präsidentschaftswahl – bei der sich Amtsinhaber Alexander Lukaschenko mit 80 Prozent der Stimmen zum Sieger erklärte – noch immer täglich Menschen auf die Straße, landesweit. Dazu streiken Arbeiter in den Staatsbetrieben, Ärzte und Krankenschwestern demonstrieren vor Kliniken, Wissenschaftler protestieren vor Hochschulen.

All das hat es in der 26-jährigen Amtszeit Lukaschenkos noch nicht gegeben. Erstmals steht das EU-Nachbarland vor einem möglichen Wendepunkt. Die Diktatur droht zu kippen – doch wird sie das auch? Derzeit gibt es drei Szenarien, wie es in Belarus weitergehen könnte:

1. Proteste und Streiks zwingen Lukaschenko zum Dialog

Für viele Demonstranten und gerade die Streikenden gibt es kein Zurück mehr. Sei es Job, soziale Absicherung oder schlicht die eigene Gesundheit: Zu viel haben sie bereits riskiert, um Neuwahlen und einen friedlichen Machtwechsel zu erreichen.

Die meisten Protestierenden denken deshalb gar nicht ans aufhören. "Ich bin daran gewöhnt, dass dies ein Marathon und kein Sprint ist", sagte etwa Jura Sidun unserer Redaktion. Der 38-Jährige ist seit mehr als 22 Jahren politisch in Belarus aktiv.

Diese Sicht bestätigt auch der belarussische Politikwissenschaftler Vadim Mojeiko vom Belarusian Institute for Strategic Studies (BISS): Die Belarussen seien bereit für lang anhaltende Demonstrationen. "Ich erwarte massive Straßenproteste an jedem Wochenende sowie täglich kleinere, lokale Aktionen, einschließlich örtlicher Streiks", sagt Mojeiko im Telefonat mit unserer Redaktion.

Die Zeit spielt den Protestierenden durchaus in die Hände. "Wir werden dieses Patt mit seinen Höhen und Tiefen bis zum Kollaps der Wirtschaft haben. Es dürfte nicht allzu lange dauern, wenn Russland sich nicht entschließt, ein paar Milliarden beizusteuern", glaubt Tadeusz Giczan vom University College London School of Slavonic and East European Studies.

Wenn die Geldreserven und damit die Mittel zum Unterhalt des umfangreichen Macht- und Sicherheitsapparates sowie der Propaganda schwinden, werde es mehr und mehr Seitenwechsel geben, erklärt Giczan unserer Redaktion.

Falls also die Gefahr steigt, nicht schadlos davonzukommen, wird sich Lukaschenko zu Gesprächen mit der Opposition bereit erklären. Das wäre der Anfang vom Ende seiner Alleinherrschaft.

2. Neue Repressionswelle gegen die Opposition

Wenn sich Lukaschenko entschließt, aktiv gegen die Proteste vorzugehen, wird er sich aus einem seit Jahrzehnten gepflegten Repressionsarsenal bedienen können. Das besteht nicht nur aus Knüppel schwingenden Spezialeinheiten, sondern vor allem aus alltäglicher Überwachung, Einschüchterung, Gängelung sowie ständiger Geld- und Kurzzeit-Gefängnisstrafen.

Diese Taktik hat bereits die Partei-Opposition zersetzt und breite Bevölkerungsteile apolitisiert – bis die Coronakrise und die Mobilisierungskraft von Tichanowskaja und ihrer zwei Mitstreiterinnen das Gegenteil bewirkten.

Lukaschenko hat bereits ein Ende der Krise angekündigt, es ist eine Kampfansage an die eigene Bevölkerung. "Das ist mein Problem, das ich lösen muss und das wir lösen. Und glaubt mir, in den kommenden Tagen wird es gelöst", sagte Lukaschenko am Freitag in einer Rede vor Arbeitern in der Region Dscherschinsk südlich der Hauptstadt Minsk.

"Wir werden eine weitere Welle von Razzien erleben, wie es Lukaschenko angekündigt hat", erklärt Giczan. Er geht davon aus, dass diese nicht so brutal wie am Wahltag und eher lokal begrenzt sein werden.

Fakt ist: Bereits jetzt gehen die Behörden verstärkt gegen die Organisatoren der Proteste und Streiks vor. Zwei Mitglieder des von Tichanowskaja initiierten Koordinierungsrates, der einen politischen Wechsel erreichen will, sowie zwei Streikführer wurden am Montag festgenommen. Ihnen wird die illegale Organisation von Streiks vorgeworfen. Die dem Koordinierungsrat angehörende Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch sowie der ebenfalls dazugehörige ehemalige Kulturminister und Diplomat Pawel Latuschko wurden vorgeladen.

Und schon am Donnerstag hatte die belarussische Justiz strafrechtliche Ermittlungen gegen den Koordinierungsrat eingeleitet. Die Behörden werfen dem Rat vor, die Macht an sich reißen zu wollen und die Sicherheit zu gefährden. Bei einer Verurteilung drohen den Mitgliedern bis zu fünf Jahren Haft.

Eine Gefahr bleibt aber: Geht Lukaschenko zu grobschlächtig gegen Wortführer der Opposition, Streikende und Protestierende vor, könnte das weitere Bevölkerungsgruppen mobilisieren. Jene, die sich bisher nicht offen gegen den Präsidenten gestellt, sich aber insgeheim schon von ihm abgewendet haben.

3. Abflauen der Proteste

Es ist das Szenario, auf das Lukaschenko wohl zumindest mittelfristig hofft. Bereits seit Beginn versucht er, die Protestierenden zu diskreditieren. Mal seien sie Marionetten Russlands, mal einiger EU-Staaten. Sukzessive könnte diese Erzählung gerade bei Menschen ohne Internetzugang und außerhalb der aktuellen Protest-Hochburgen Minsk, Grodno und Soligorsk verfangen.

Dazu kommt: Der große Vorteil der Proteste könnte zu ihrem Nachteil werden – die fehlende Führung. Moralische Unterstützung kommt zwar von Tichanowskaja und ihrer Verbündeten Maria Kolesnikowa, die unentwegt durch Belarus reist und mit Protestierenden spricht. Doch die Frauen rufen – auch aus Eigen- und zum Schutz politisch Inhaftierter, darunter Tichanowskajas Ehemann – nicht aktiv zu Demonstrationen oder gar Aktionen auf.

So gingen am Sonntag erneut mehr als 100.000 Menschen auf die Straße. Aber es gab weder eine Bühne, noch Reden oder gar einen Plan, was eigentlich passieren sollte – außer eben auf die Straße zu gehen, seinen Unmut über das Regime zu äußern und Neuwahlen zu fordern.

Gerade langfristig könnte das schlicht zu wenig sein. Die allsonntäglichen Demonstrationen würden zu einem Ritual verkommen und damit an Popularität verlieren. Die derzeit noch vorhandene Signalwirkung droht dann in das Gegenteil zu kippen. Und ohne Menschenmassen in der Hauptstadt dürften auch die Proteste in anderen Städten schnell abflauen.

Allerdings haben die anhaltend friedlichen Proteste Lukaschenko bereits zu Fehlern provoziert. Mit Blick auf den Staatschef, der am Sonntag mit Sturmgewehr und Militärweste an einer Barrikade hochgerüsteter Spezialeinheiten posierte (nachdem viele der Protestierenden bereits nach Hause gegangenen waren), sagt BISS-Analyst Mojeiko: "Die Show hat die Panik der Obrigkeit gezeigt."

Die Menschen könnten sich laut Mojeiko als "psychologische Sieger" sehen – nicht die schlechteste Voraussetzung für einen langen Atem.

Verwendete Quellen:

  • Gespräche und Chats mit Vadim Mojeiko und Tadeusz Giczan. Mojeiko ist Analyst beim Belarusian Institute for Strategic Studies sowie Dozent an der Fakultät für Sozial- und Geisteswissenschaften der Belarusian State University of Physical Education. Giczan ist Doktorand am University College London School of Slavonic and East European Studies. Dort forscht der gebürtige Belarusse zu patronaler Politik sowie politischen und wirtschaftlichen Eliten in den postsowjetischen Ländern, mit besonderem Schwerpunkt auf Belarus.
  • Agenturmeldungen der AFP
  • eigene Recherchen
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