Der Anschlag in Istanbul geht mutmaßlich auf das Konto der Terrormiliz "Islamischer Staat". Für Terrorexperte Jörg H. Trauboth ist es keine Überraschung, dass die Türkei so sehr ins Visier des Terrors gerückt ist. In gewisser Weise, so der Experte, habe die Regierung um Präsident Recep Tayyip Erdogan mit ihrer Politik erst den Boden für Terror bereitet.

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Herr Trauboth, für die Türkei steht der Drahtzieher fest: der IS. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Terrormiliz etwas mit dem Anschlag zu tun hat?

Jörg H. Trauboth: Ich halte die Wahrscheinlichkeit für sehr hoch – und zwar unter dem Aspekt, dass es der Türkei eher gelegen käme, hätte die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK den Anschlag verübt. Das würde nämlich zu einem größeren Verständnis der Türkei im Kampf gegen die PKK – insbesondere in Deutschland – führen.

Jörg H. Trauboth
Jörg H. Trauboth © Privat

"Hürriyet" berichtet, dass der türkische Geheimdienst MIT vor Terrorangriffen unter anderem auf Touristen im Land gewarnt hatte. Kann dies erklären, weshalb sich die türkische Regierung relativ schnell auf den IS festgelegt hat?

Das könnte sehr gut sein, zumal der IS im Sommer 2015 angekündigt hat, die Türkei ins Herz zu treffen. Wenn also Erdogan bereits zwei Stunden nach dem Anschlag behauptet, der sogenannte "Islamische Staat" (IS) sei für den Anschlag verantwortlich, dann muss es da gesicherte Gründe dafür geben.

Wieso verübt der IS in der Türkei Anschläge? Schließlich steht im Raum, dass die Türkei mit der Terrormiliz gemeinsame Sache macht.

Das stimmt. Seitens der Türkei hat es logistische Unterstützung gegeben und wahrscheinlich noch viel mehr. Allerdings hat die Türkei 2015 eine Richtungsänderung in ihrem Verhalten gegenüber dem IS vollzogen.

Zwar ist die Grenze nach Syrien und zum Irak noch durchlässig, aber die Türkei gewährt der US-geführten Allianz die Luftwaffenbasis Incirlik als Drehscheibe für die Angriffe gegen den IS.

Das hat die gesamte geostrategische Lage zum Nachteil für den IS verändert. Danach hat der "Islamische Staat" gedroht, die Türkei zu bekämpfen. Der Anschlag in Suruc markiert einen Wendepunkt im Verhältnis des IS zur Türkei.

Wieso trifft es dann Touristen?

Dieser Anschlag trifft die bereits im Tourismus sehr geschwächte Türkei mitten ins Herz. Deutschland stellt traditionell das größte Reisekontingent. Und der Sultan Ahmed Platz ist geradezu der perfekte Ort für Terroristen, um zahlreiche Menschen aus vielen Nationen zu töten.

Nachdem auch der Markt durch russische Touristen weggebrochen ist, wird die Türkei dieses Jahr einen riesigen Einbruch in der Tourismusbranche haben. Die Folgen sind nicht absehbar.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte: "Nach bisherigem Ermittlungsstand liegen keine Hinweise darauf vor, dass der Anschlag gezielt gegen Deutsche gerichtet war". Wie wahrscheinlich ist es nach Ihrer Auffassung, dass der Anschlag doch auch Deutschland galt?

Die Aussage der Bundesregierung ist politisch beruhigend zu verstehen. Die Beurteilung kann sich bereits morgen mit einer Bekennerbotschaft ändern.

Den Bezug zu Deutschland halte ich persönlich angesichts der Zielauswahl und Durchführung durchaus für wahrscheinlich. Denn es ist bekannt, dass jeden Dienstag eine deutsche Reisegruppe um die gleiche Zeit zu dem Platz gefahren wird.

Der Attentäter hat sich dann unter die deutsche Gruppe gemischt. Es ist also nicht zufällig passiert, sondern gezielt. Der neue Hassgegner Türkei wurde getroffen und Deutschland möglicherweise abgestraft.

Könnte es sich nicht auch um einen Racheakt der Kurden handeln?

Ein Racheakt der PKK ist nicht auszuschließen. Sie hat jedoch bisher vermieden, touristische Ziele anzugreifen.

Einen derartigen Anschlag würde ich eher der marxistisch leninistischen Terrororganisation DHKP-C zutrauen, die übrigens am selben Ort vor genau einem Jahr einen Anschlag verübt hat, bei dem zwei Polizisten verletzt wurden.

Allerdings ist es eher wahrscheinlich, dass tatsächlich der IS hinter dem Terrorakt steckt. Sei es gesteuert als "Auftragsarbeit" oder durch einen allein agierenden Einzeltäter.

Welche Probleme hat die Türkei mit Terror generell?

Die Türkei hat große Probleme. Sie ist seit dem 20. Juli 2015 mit dem Anschlag in Suruc im Visier der Terrormiliz. Zusammen mit dem Anschlag in Ankara durch Dschihadisten und in Daglica durch die PKK gab es in der Türkei allein im Jahre 2015 über 160 Tote als Folge von Terroranschlägen.

Die Türkei hat sich innerhalb eines Jahres durch ihre desolate Politik bezüglich der PKK, dem IS und Russland in eine selbstverschuldete Gefährdungslage katapultiert. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Erdogan hat die Vision gehabt unter seiner Führung der Türkei als neues, modernes Osmanisches Reich eine Strahl- und Führungskraft für die gesamte Region zu geben.

Das Ergebnis seiner Politik aber ist, dass das Land im Unfrieden mit praktisch allen Nachbarländern lebt und einen Zweifrontenkrieg mit der PKK und dem IS hat. Auf der anderen Seite sind sie verbandelt mit der US-amerikanischen Allianz.

Die Türkei befindet sich in einer politischen Sackgasse. Das Fatale ist, wir brauchen dieses Land, um den Syrienkonflikt zu lösen. Düstere Aussichten.

Ist der Reisehinweis des Auswärtigen Amtes überzogen?

Die Türkei ist spätestens jetzt kein sicheres Reiseland mehr. Die Warnung ist daher sehr berechtigt, und ich halte sie für geboten. Für die Betroffenen kommt sie – wie immer – leider zu spät.

Es ist auch nicht auszuschließen, dass Anschläge auch in touristisch eher unberührten Gebieten verübt werden. Die Verantwortung für weitere Reisen in die Türkei liegt allein bei den Reisenden.

Die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes ist keine Lebensversicherung.

Wie sicher sind Länder im Mittelmeerraum?

Nordafrika, einschließlich Tunesien, Marokko, Algerien, Israel und weiter Ägypten sind als sichere Reiseländer weggebrochen.

Im Mittelmeerraum sind derzeit nur noch Spanien, Griechenland und Italien sicher – noch. In meinem Deutschland-Thriller "Drei Brüder" habe ich einen vom IS gesteuerten Anschlag gegen deutsche Touristen auf einem Schiff im Mittelmeer vorausgesagt.

Die Zeiten der globalen Sicherheit und des unbeschwerten Reisens sind vorbei.

Wie groß ist die Gefahr, dass so ein Anschlag auch in Deutschland erfolgt?

Die Anschlagsgefahr für Deutschland halte ich für hoch. Dennoch heißt das nicht, dass das ganze Land oder Europa unsicher wären.

Terroranschläge, so schrecklich sie sind, betreffen immer nur kleine lokale Bereiche. Die gefühlte Bedrohung nach Ereignissen wie Paris und Istanbul steht in keinem Verhältnis zur realen Bedrohung.

Ich empfehle Gelassenheit – aber auch Wachsamkeit.

Jörg H. Trauboth (1943), Oberst a.D. der Luftwaffe, war als Generalstabsoffizier in nationalen Verwendungen und in der Nato Brüssel. Er flog über 2.000 Flugstunden als Waffensystemoffizier in Phantom und Tornado-Kampflugzeugen. Nach Verlassen der Bundeswehr Krisenmanager bei Erpressungen und Entführungen. Sachbuchautor und Autor des Deutschland-Thrillers "Drei Brüder" über den IS-Terror. www.trauboth-autor.de
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