Von Österreichern werden deutsche Autobahnen gerne als Rennstrecke betrachtet, erzählt Verkehrsforscher Harald Frey von der TU Wien im Interview. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass hierzulande kein Tempolimit gilt. Doch der Experte meint auch: Der Geschwindigkeitsfetisch ist nicht typisch deutsch. Und vor allem: Er ist überwindbar.

Ein Interview

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Deutschland diskutiert leidenschaftlich über ein Tempolimit auf Autobahnen. Währenddessen hat Österreich eine Teststrecke eingerichtet, auf der statt der gängigen 130 km/h nun 140 km/h erlaubt sind. Führt Deutschland also die falsche Diskussion?

Nein, meint Verkehrsforscher Harald Frey von der Technischen Universität Wien im Interview mit unserer Redaktion: Das Experiment beweise eher, wie wichtig ein Tempolimit für den Klimaschutz ist.

Und überhaupt zeige das Beispiel Österreich, wie auch in Deutschland ein Weg zu einem Tempolimit aussehen könnte: Mit Sachargumenten, die den vorherrschenden Geschwindigkeitsfetisch besiegen können. Denn "freie Fahrt für freie Bürger" hat mit der Realität nichts mehr zu tun.

Herr Frey, was ändert sich vom Gefühl her, wenn man von einer österreichischen Autobahn auf eine deutsche Autobahn fährt?

Harald Frey: Österreicher verknüpfen mit den deutschen Autobahnen diese Idee: Hier kann ich fahren, wie ich will. Es wird so ein bisschen als Rennstrecke gesehen, vielleicht ist das für die Deutschen selbst ähnlich.

Das Außenbild ist jedenfalls wirklich problematisch, das führt natürlich zu reduzierter Verkehrssicherheit und problematischen Situationen, zum dichten Auffahren, zu ungleichmäßigen und unsteten Geschwindigkeiten.

Wie macht sich das für Sie persönlich bemerkbar?

Ich finde es relativ stressig, weil ich doch öfter in den Rückspiegel schaue, ob nicht ein wirklich schnelles Auto kommt. Wenn sich ein Auto mit 170 km/h oder mehr nähert, erzeugt das nicht nur Ungleichmäßigkeit im Fahrzeugstrom, sondern auch Stress bei den Fahrenden. Das kann natürlich Fehlverhalten auslösen in weiterer Folge.

Im Gegensatz zu Deutschland herrscht in Österreich seit 1974 Tempolimit 130 auf den Autobahnen. Wie wurde die Einführung damals angenommen?

Wir hatten damals Höchstwerte bei den Unfallzahlen und den Toten im Straßenverkehr. Trotzdem wurde es, wie alle Aspekte der Verkehrssicherheit, massiv kontrovers diskutiert.

Ich habe mir mal alte Berichte angeschaut, zum Beispiel über die Einführung der Gurtpflicht, da war es auch so. Die Autoindustrie und die Autofahrerlobby haben damals mit Scheinargumenten versucht, das zu verhindern.

Aber zum Glück sind damals weitsichtige, rationale Politiker und Politikerinnen den Sachargumenten aus der Wissenschaft gefolgt - unter Forschern gilt als ausgemacht, dass ein Herabsetzen des Tempolimits um 5 km/h die Anzahl der tödlichen Unfälle um 20 Prozent reduziert.

Was hat Tempo 130 in Österreich damit konkret gebracht?

Im Jahr 1972 gab es in Österreich den vorläufigen Höchststand an getöteten Personen im Straßenverkehr. Seither konnte die Zahl der Getöteten kontinuierlich gesenkt werden. Die gravierendsten Veränderungen bei den Todesraten und Verletzten fanden bis Ende der 1980er Jahre unter anderem nach Herabsetzung des Tempolimits auf Autobahnen statt.

Österreich liegt heute im europäischen Mittelfeld und hat im Vergleich zu skandinavischen Staaten, in denen deutlich niedrigere Limits herrschen, deutlichen Aufholbedarf.

In Deutschland wird Tempo 130 vor allem auch unter dem Aspekt des Klimaschutzes diskutiert, welche Erfahrungen hat Österreich da gemacht?

Die Reduktion der Emissionen, die immer vom Geschwindigkeitsniveau abhängt, war ganz wesentlich. Wir haben in Österreich gerade eine Teststrecke für Tempo 140, dort werden die Systemwirkungen klar aufgezeigt: Das sind 10 km/h mehr als vorher, und wir haben eine um rund 15 bis 20 Prozent höhere Belastung mit Feinstaub und Stickoxiden.

Das Problem ist ja, dass die Schadstoffbelastung mit höherer Geschwindigkeit exponentiell steigt, weil der Luftwiderstand zunimmt und damit der Kraftstoffverbrauch steigt.

Das Österreichische Umweltbundesamt hat gerade 50 Maßnahmen simuliert und im Hinblick auf die Erreichung der Klimaziele durchgerechnet, wo wir, wie Deutschland, auch weit hinterher sind. Da steht an erster Stelle: Tempolimit reduzieren auf 100 km/h. Das kostet verhältnismäßig wenig und bringt in Relation viel CO2-Einsparungen.

Der damalige Verkehrsminister Norbert Hofer von der FPÖ begründete den Tempo-140-Versuch ja mit dem Argument, so könne ein besserer Verkehrsfluss erreicht werden.

Oft wird mit Zeitverlust gegen Tempolimits argumentiert. Aber man merkt es selbst: Eine reduzierte Geschwindigkeit von 100 oder 120 km/h führen zu einer Verstetigung im Verkehrsfluss, zu weniger Pulkbildung und damit weniger Stau.

Das Problem ist das stetige Auffahren, wenn jemand überholen will, selbst bei mehrspurigen Autobahnen muss oft abrupt abgebremst werden, das dritte oder vierte Auto bremst dann sehr stark, und daraus entstehen Staus oder gar Unfälle.

Wenn wir wirklich mit einem Tempolimit entspannter, sicherer und weniger klimaschädlich fahren können - was glauben Sie, warum ist es dann so schwer, es in Deutschland durchzusetzen?

Wie schwierig so etwas ist, zeigt sich ja auch hier in Österreich. Wir diskutieren seit den 1990er Jahren über Tempo 80 auf Landstraßen.

Es ist uns bisher nicht gelungen, obwohl nur 4 bis 10 Prozent der Landstraßen-Strecken überhaupt mit Tempo 100 befahrbar sind. Das beweist, wie schwer diesem Fetisch "Geschwindigkeit" mit rationalen Argumenten beizukommen ist.

Dieser Fetisch ist also aus Ihrer Sicht nicht speziell deutsch …

Nein, der ist uns allen inhärent. Wenn wir uns ohne externe Energie fortbewegen, beim Joggen etwa, gibt uns der Körper eine gute Rückkopplung, wann wir Pause machen müssen. Die Grenzen der Bewegung sind also im Einklang mit den Grenzen der Natur.

Das hat sich mit der Nutzung von externer Energie geändert. Bei der Eisenbahn ist das noch gut kontrollierbar durch Schienen, Signale, Haltestellen, das ist ein in sich abgeschlossenes System, das mit viel Aufwand sicher gemacht wurde.

Der Autoverkehr ist ein offenes System, jeder kann im Prinzip fahren, wie er will. Ohne Körpereinsatz, nur mit dem Druck aufs Gaspedal, können wir sozusagen mühelos Raum überwinden, das löst bei Menschen massive Faszination aus, weil wir das in der Evolution noch nie hatten.

Das wird nochmal gesteigert, wenn man sagt: Hier gibt es kein Limit. Das ist auch eine Frage des Machtgefühls, der Überlegenheit.

Deutschland ist das einzige Industrieland ohne Tempolimit, also sind wir doch die größten Fetischisten?

Nochmal: Es hat nichts mit Deutschland zu tun. Es gibt eine prinzipielle Verknüpfung zwischen Mensch und Auto. Sobald ich in einem Auto sitze, das mit externer Energie angetrieben wird, egal ob fossil oder erneuerbarer, verändert sich etwas in meinem Denken, Schauen, Handeln.

Es ist halt die Frage, wie eine Gesellschaft damit umgeht. Wie viele Tote, Verletzte, Kranke ist sie bereit zu akzeptieren für den Vorteil einiger weniger? Es ist ja nicht so, dass unser Wirtschaftssystem zusammenbrechen würde bei Tempo 100. Es ist eine klare nationalstaatliche Agenda.

Die Frage ist, ob man sich als Deutschland durchringt zu sagen: Ja, wir haben diese gesellschaftliche Verantwortung und brauchen deswegen das Tempolimit. Die Diskussion gab es ja in anderen Ländern auch und die haben es geschafft. Vielleicht auch, weil die Abhängigkeit der Politiker von der Autoindustrie kleiner ist.

Wenn es in Deutschland ein Tempolimit gäbe, stellt sich übrigens für Europas Autoindustrie auch die Frage: Warum bauen wir Autos mit 220 km/h Maximalgeschwindigkeit wenn wir mit 180 km/h auch locker auskommen? Ohne Tempolimit kann die Autoindustrie noch immer hochzüchten, die entsprechenden Motoren und Techniken verbauen.

In Deutschland wehren sich Kritiker unter dem fast schon emotionalen Schlachtruf "freie Fahrt für freie Bürger" gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn. Geht es am Ende also gar nicht um rationale Argumente, sondern um das Gefühl von Freiheit?

Wie lange sich diese Verknüpfung "freie Fahrt für freie Bürger" noch hält, weiß ich nicht. Aber sie wird immer stärker zu einem Anachronismus.

Diese freie Fahrt existiert gar nicht, auch auf der Autobahn nicht, vielleicht noch 3 Uhr morgens außerhalb der Ferienzeiten. Dieses Gefühl, das die Autowerbung transportiert, mit dem Cabrio über leere Straßen dem Sonnenuntergang entgegen, das hat mit der Realität nichts zu tun.

Am Ende der Autobahn ist eine Stadt, eine rote Ampel, und überall sind andere Verkehrsteilnehmer. Dieses realistischer werdende Bild kommt, glaube ich, stärker in die Köpfe der Menschen.

Verkehrsforscher Harald Frey arbeitet an der Technischen Universität Wien im Forschungsbereich Verkehrsplanung und Verkehrstechnik.
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