Wenn es um Greta Thunberg geht, scheinen die gemäßigten Stimmen in der Minderheit zu sein. Die einen verehren die 16-Jährige wie ein Idol, während andere sie beschimpfen. Darin, dass die Debatte um die schwedische Schülerin so emotional verläuft, sieht der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler ein Symptom unserer krankenden Demokratie. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt er, warum wir wieder lernen müssen, vernünftig miteinander zu streiten.

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Greta Thunberg hat mit ihrem Einsatz für den Klimaschutz die weltweite Bewegung "Fridays for Future" initiiert. Viele Politiker sind seitdem bemüht, zu zeigen, dass sie die Schüler ernst nehmen, die für konsequentere Maßnahmen zur Senkung der CO2-Emissionen demonstrieren. Doch die öffentliche Debatte ist alles andere als harmonisch.

Sowohl bei manchen Unterstützern als auch Kritikern Greta Thunbergs kochen die Emotionen häufig hoch. Im Internet werden Sticker und T-Shirts mit Beleidigungen gegen die Klimaaktivistin verkauft. Auf der anderen Seite werden Menschen, die sachliche Kritik an einzelnen Aspekten von Thunbergs Verhalten äußern, von Anhängern der 16-Jährigen als egoistische Umweltverschmutzer gebrandmarkt.

Die eigentlichen Inhalte scheinen vor einem emotionalen Parteiergreifen in den Hintergrund zu rücken. In dieser unsachlichen Diskussionskultur sieht Volker Boehme-Neßler ein Zeichen dafür, dass unsere Demokratie insgesamt krankt. Als Professor an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg zählen Grenzfragen von Recht und Psychologie zu seinen Forschungsschwerpunkten.

Prof. Boehme-Neßler, die öffentliche Figur Greta Thunberg polarisiert enorm. Am einen Extrem der Debatte hagelt es Beschimpfungen gegen sie, am anderen wird sie gleichsam zum Messias erhoben, an dem keine Kritik erlaubt ist. Was ist da los?

Prof. Volker Boehme-Neßler: Die öffentliche Debatte ist entgleist. Sie ist immer stärker und immer öfter moralisch und emotional. Wir können nicht mehr einigermaßen sachlich und vernünftig miteinander reden.

Wir werden immer schneller heftig emotional, äußerst empört und auch aggressiv. Das ist ein Problem für die Demokratie.

Denn die Grundidee der Demokratie ist: Wir reden vernünftig und respektvoll über Probleme und finden sachlich angemessene Lösungen. Das geschieht, ohne dass wir die anderen moralisch abwerten oder als Feinde bekämpfen. Diese Grundlage der Demokratie gerät immer mehr in Vergessenheit. Wenn ich mir diese Entwicklung der Debattenkultur ansehe, dann sehe ich schwarz für die Demokratie.

"Greta Thunberg ist eine tragische Figur" - und gefährdet die Demokratie?

Was an Greta Thunberg löst selbst bei manchen Klimaschützern Widerstände aus?

Letztlich ist Greta Thunberg eine tragische Figur. Sie hat – finde ich – völlig Recht mit ihrem politischen Ziel. Es ist tatsächlich so, dass sich die globale Klimapolitik radikal wandeln muss.

Aber wie sie für dieses Ziel kämpft, ist erschreckend undemokratisch. Sie sagt: Ich will, dass ihr in Panik geratet! Politische Ziele erreichen, indem Menschen in Angst und Panik versetzt werden? Damit haben wir eine Jahrtausende lange schlimme Tradition in der Politik.

Herrschen durch Angst – das machen absolutistische Herrscher und totalitäre Ideologien. Das Christentum hat über Jahrhunderte den Gehorsam der Menschen erzwungen, indem es ihnen Angst vor der ewigen Verdammnis in der Hölle gemacht hat. In Demokratien hat das nichts zu suchen. Wir können spätestens seit der Aufklärung sachlich und vernünftig miteinander umgehen und gute Lösungen für politische Probleme finden.

In einer Rede in London hat Greta Thunberg gesagt: "Ich habe das Asperger-Syndrom, und für mich ist fast alles schwarz oder weiß." Genau da liegt das Problem. Schwarz-Weiß-Denken ist schädlich für die Demokratie. Schwarz-Weiß-Denken führt ganz schnell zu Freund-Feind-Denken. Und dann entgleist die Debatte.

Es wird nicht mehr diskutiert, es werden auch keine Kompromisse mehr geschlossen, sondern es wird nur noch gekämpft, gebrüllt und gepöbelt. Greta Thunberg will die Welt retten, aber so wie sie das tut, gefährdet sie die Demokratie. Das ist ihre Tragik.

"Angst macht dumm und hilft nicht, gute Lösungen zu finden"

Kann es nicht auch sinnvoll sein, wenn sich das Moralempfinden und die Ängste der Bevölkerung auf die Politik auswirken?

Angst ist wichtig. Sie zeigt an, wo Gefahren lauern und warnt uns davor. Und genauso selbstverständlich brauchen wir moralische Grundwerte.

Eine Gesellschaft ohne Moral wäre kein schöner Ort. Aber Politik muss vernünftig und sachlich bleiben. Sie darf sich nicht von Ängsten anstecken lassen. Denn Angst macht dumm und hilft nicht dabei, gute Lösungen zu finden.

Politik muss die Ängste ernst nehmen. Gleichzeitig darf sie sich aber von ihnen nicht überwältigen und steuern lassen. Die Antwort auf Ängste heißt: sachlich und respektvoll diskutieren und angemessene Lösungen suchen.

Sie sagen also, aus Angst werden keine guten Lösungen geboren?

Angst ist ein unheimlich starker Motor. Angst setzt ganz viel in Bewegung. Greta Thunberg und ihre Ängste setzen ja auch ganz viel in Bewegung. Das ist auch toll. Dass der bayerische Ministerpräsident Markus Söder plötzlich grün ist, hängt auch mit Greta Thunberg zusammen.

Wenn man aber Lösungen sucht, dann ist Angst kein guter Ratgeber. Man muss vernünftig und rational sehen: Was wissen wir, was können wir machen, was müssen wir alles berücksichtigen? Und auch: Was ist sinnlos, welche Maßnahmen wären also reine Symbolpolitik oder dummer Aktionismus? Welche politischen Maßnahmen sind sinnvoll und müssen schnell umgesetzt werden?

Genau solche rationalen Überlegungen werden schwierig oder sogar unmöglich, wenn die Angst regiert. Die Angst hat etwas in Bewegung gesetzt, und das muss jetzt in rationale, vernünftige, sachlich angemessene Politik übersetzt werden. Wenn sich die Politik von Angst und Hysterie anstecken lässt, wird alles viel schlimmer.

Was sind die Ursachen dafür, dass das Freund-Feind-Denken und die heftigen Emotionen in öffentlichen Diskussionen zunehmen?

Es gibt viele Ursachen. Eine ist: Die Welt ist sehr kompliziert. Und sie wird durch Globalisierung und Digitalisierung jeden Tag noch komplizierter. Wir verstehen immer weniger von der Welt. Das ist für uns Menschen aber eine Belastung. Es gibt eine innere Sehnsucht, die Welt zu verstehen und zu ordnen.

Moralisch eingefärbtes Schwarz-Weiß-Denken ist ein erprobtes Mittel, um die Welt einfacher zu machen und sie besser zu verstehen. Wenn es nur richtig oder falsch gibt, nur gut oder böse, lässt sich jedes Phänomen schön eindeutig einordnen. Klimaschutz ist gut, Fleisch ist böse. Punkt. Auf dieser Basis hat man es leicht, ohne Mühe die Welt verstanden. Mit sehr komplizierten globalen ökologischen und ökonomischen Zusammenhängen muss man sich dann nicht mehr befassen.

Auch die großen Erfolge der Populisten von rechts und links lassen sich zum großen Teil dadurch erklären. Sie bieten ganz einfache Lösungen für alle komplizierten Probleme an. Etwas zugespitzt: Wir müssen nur die Ausländer abschieben oder das Großkapital enteignen, dann ist alles wieder in Ordnung.

Die Welt ist uns zu kompliziert, wir retten uns in einfache Lösungen und Erklärungen und die sind dann moralisch und emotional. Aber natürlich sind die Erklärungen und Lösungen falsch. Die Welt ist zu kompliziert für einfache Erklärungen.

Spielt das Internet dabei auch eine Rolle?

Die Kommunikation in den sozialen Medien ist eine weitere Ursache für die Verwahrlosung der öffentlichen Debatten. Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit ihres Lebens in sozialen Medien. Das hat natürlich Folgen.

Die Art und Weise, wie sich das Leben in den sozialen Medien abspielt, prägt auch immer stärker das Verhalten in der echten Welt. Wie wir im Internet sind, beeinflusst auch, wie wir in der Alltagswelt sind.

Wie sind wir denn im Internet?

Wenn man sich die Debatten in den sozialen Medien genauer ansieht, dann wird zweierlei klar. Wir bewegen uns in Communities von Gleichgesinnten. Alle Katzenliebhaber sind in der Katzen-Community und tauschen sich dort aus. Da sind sich alle einig, es gibt keine tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten.

Einfach deswegen, weil die Hundeliebhaber in ihrer eigenen Community unter sich sind und überhaupt nicht mit den Katzenliebhabern zusammentreffen und diskutieren. Tiefe Meinungsverschiedenheiten und echter Streit können so nicht entstehen. Das ist die berühmt-berüchtigte Filterblase.

Das sind die Folgen unserer Filterblasen

Was ist daran schlimm?

Wir verlernen, uns mit anderen Meinungen sachlich auseinanderzusetzen. Wir können auf die Dauer nur noch mit Menschen umgehen, die dieselbe Meinung wie wir haben. Für die Demokratie ist das fatal. In der Demokratie müssen wir sachlich mit Leuten diskutieren können, die eine völlig andere Meinung haben.

Und wir müssen das auch grundsätzlich auf Augenhöhe und mit gegenseitigem Respekt können. Die andere Meinung ist grundsätzlich genauso legitim wie meine eigene. Sie ist anders, ich mag sie nicht, ich argumentiere auch gegen sie, aber sie ist grundsätzlich ebenso berechtigt wie meine.

Das muss man aber üben, das können wir nicht automatisch. Und wenn wir permanent in der Filterblase sind, dann üben wir das nicht mehr. Und dann können wir das irgendwann auch nicht mehr. Die Folge: Die demokratische Debatte funktioniert nicht mehr.

Ein weiterer Punkt ist das, was die Sozialpsychologen den "online inhibition effect", also den "Online-Enthemmungseffekt" nennen. Wenn wir online kommunizieren, sind wir oft hemmungsloser. Wir pöbeln und schimpfen viel eher und viel mehr als im echten Leben. Wenn wir uns daran gewöhnen, prägt das auch unseren Kommunikationsstil im Alltag: Auch hier werden wir hemmungsloser und aggressiver.

Wie kann man dieser Tendenz entgegenwirken?

Freiheit und Demokratie müssen immer wieder neu erkämpft werden. Das heißt, wir müssen immer wieder darüber nachdenken und immer wieder reflektieren, wie wir in der Demokratie eigentlich miteinander umgehen. Vor allem, wie wir mit Menschen umgehen, deren Meinung uns nicht passt. Wir müssen uns immer wieder ganz bewusst Mühe geben, sachlich und respektvoll mit Menschen umzugehen, die andere Meinungen vertreten.

Wir müssen uns überlegen, wie wir es schaffen, in den sozialen Medien ein Mindestmaß an vernünftigem Umgang miteinander zu erreichen. Hier sind die Schule und alle anderen Bildungseinrichtungen gefragt.

Es ist ja seit der Aufklärung unsere Grundüberzeugung, dass man durch Bildung die Welt und das Leben verbessern kann. Das ist sozusagen das aufklärerische Allheilmittel: Schule und Bildung. Das hat sich nicht überholt. Insgesamt gilt: Die Demokratie ist kein Selbstläufer. Sie muss gehegt und gepflegt und weiterentwickelt werden. Sie kann auch verloren gehen, wenn man sie verwahrlosen lässt.

Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler leitet das Institut für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem bei Grenzfragen von Recht und Psychologie und dem Medienrecht. In seinem Buch "Das Ende der Demokratie?" diskutiert er die Effekte der Digitalisierung aus rechtlicher, politologischer und psychologischer Sicht.
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