Nach tagelangen heftigen Regenfällen herrscht in Rio Grande do Sul der Ausnahmezustand. Brasiliens südlichster Bundesstaat steht unter Wasser. 854.500 Haushalte sind derzeit ohne Wasserversorgung, 420.000 Haushalte ohne Strom. Gouverneur Eduardo Leite fordert einen Marshallplan.

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420 Liter Wasser auf den Quadratmeter und das in einem Zeitraum von elf Tagen: Vom 24. April bis 4. Mai regnete es in Rio Grande do Sul so stark, dass die größte Flutkatastrophe in Brasilien seit mehr als 80 Jahren ausgelöst wurde.

Der Lago Guaíba erreichte am vergangenen Sonntag einen Pegel von 5,29 Metern – höher als beim bisherigen Rekordhochwasser im Jahr 1941. Bereits ab 2,50 Metern besteht Hochwassergefahr. Der Lago Guaíba ist der etwa 50 Kilometer lange, etwa 500 Quadratkilometer umfassende Zusammenfluss von fünf Flüssen in Brasiliens südlichstem Bundesstaat Rio Grande do Sul.

Bis zum Sonntagabend verzeichneten der Zivilschutz 78 Tote und 175 Verletzte. 105 Personen werden zurzeit noch vermisst. Insgesamt sind 300 Gemeinden in 16 Kreisen von der Flutkatastrophe betroffen. Eine ganze Reihe Krankenhäuser mussten ganz oder teilweise geschlossen werden, ebenso der Flughafen von Porto Alegre.

Mehr als 850.000 Haushalte haben kein frisches Wasser

"Wir müssen den Verkehr in Porto Alegre reduzieren, damit die Rettungsdienste schneller an den richtigen Ort gelangen können. Ich werde die Stadt nicht evakuieren, sondern nur eine Empfehlung aussprechen", sagte Bürgermeister Sebastião Melo am Sonntagnachmittag auf einer Pressekonferenz. Wer könne, solle an die Küste gehen.

Ein Frachtflugzeug steht auf dem völlig überfluteten Flughafen von Porto Alegre in Rio Grande do Sul (Aufnahmedatum: 6. Mai 2024) © REUTERS/Diego Vara

Melo richtete zugleich einen dringenden Hilfsappell an die Bundesregierung in Brasília. "Sie (gemeint ist Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, Anm. d. Red.) müssen alle Ressourcen, die Sie haben, zur Verfügung stellen. Der Stadt fehlt es an der Basis. In meiner Stadt mangelt es an Booten und Westen, aber das gilt für Dutzende von Gemeinden. Man kann nicht zwei Tage warten, es muss heute sein, es muss jetzt sein."

854.500 Haushalte - laut Behörden entspricht das einem Drittel der Bevölkerung des Bundesstaats - haben derzeit keinen Zugang zur Wasserversorgung. Rund 420.000 Haushalte sind ohne Strom.

Noch bis mindestens Mitte der Woche bleiben die Schulen im Bundesstaat geschlossen. Immerhin: 136 Haustiere konnten bislang gerettet und in Notunterkünfte gebracht werden.

"Es ist eine Katastrophe hoch drei", sagt Franz-Josef Lauer, "noch schlimmer als im Ahrtal." Dort starben in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 135 Menschen, 9.000 Häuser wurden zerstört. Lauer ist Vorsitzender des Vereins Brasilienfreunde Rheinböllen in Rheinland-Pfalz. Seit 1991 reisen Delegationen regelmäßig in die Partnerstadt Marata, die nun von der Jahrhundertkatastrophe betroffen ist.

"Es gab sehr weitreichende Schäden, große Teile der Infrastruktur sind kaputt. Häuser, Straßen und Brücken wurden weggespült, viele haben Schlamm in den Häusern und Wohnungen. Gärten und landwirtschaftliche Flächen wurden überflutet und zurück bleiben Unrat und eine rote Pampe‘", schildert Lauer die Situation, die er über die sozialen Netzwerke verfolgt.

Im Juli will er dennoch mit einer 45-köpfigen Delegation nach Rio Grande do Sul reisen, denn der Süden Brasiliens feiert in diesem Jahr 200 Jahre deutsche Einwanderung. Damals waren viele Menschen aus dem Hunsrück nach Südbrasilien ausgewandert, Kontakte in die alte Heimat bestehen aber noch immer. Sogar ein Empfang bei Gouverneur Eduardo Leite ist nach jetzigem Stand geplant. "Wir hoffen, dass bis im Juli einige Schäden beseitigt werden können."

Ester Marqueto Nöthen da Rosa hatte vergleichsweise Glück: Ihr Haus steht etwas erhöht in der Nähe des Stadtzentrums von Porto Alegre, wurde deshalb nicht überflutet. Strom- und Wasserversorgung hat sie zurzeit dennoch nicht. "Die Bundesregierung hat Hilfe versprochen, aber bisher nichts", schreibt sie auf Anfrage per Messenger. "Wir brauchen Freiwillige, die bei der Rettung von Menschen helfen und Sachspenden wie Matratzen, Bettwäsche, Hygieneartikel, Wasser..."

Die Hilfe aus dem Rest des Landes läuft aus ihrer Sicht eher schleppend an. "Wir haben festgestellt, dass die Hilfe von Freiwilligen, Nachbarn und Freunden größer ist als die von spezialisierten Feuerwehrleuten, Rettungskräften und so weiter. Die Bundesregierung muss handeln und Leute schicken sowie Geld und Vorräte."

Gouverneur Eduardo Leite: "Wir brauchen einen Marshallplan"

Auf Hilfe von außen drängt auch Gouverneur Eduardo Leite. Wegen hoher Schulden gilt zurzeit eine Ausgabensperre. Diese sei angesichts der Katastrophe kaum aufrechtzuerhalten, kritisierte er auf einer Pressekonferenz: "Rio Grande do Sul hat aufgrund von Steuerbeschränkungen Schwierigkeiten, normal zu funktionieren, ein ernstes Problem, das wir aufgrund alter Schulden haben. Wenn es in normalen Zeiten schwierig genug ist, werden wir in außergewöhnlichen Zeiten nicht in der Lage sein, zu reagieren. Wir werden nicht den Atem haben, zu reagieren."

Darum fordere er einen "Marshallplan" für den Wiederaufbau seines Bundesstaats. Der Marshallplan der USA half beim Wiederaufbau der Staaten Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Hilfsleistungen bestanden zu einem großen Teil aus Krediten. Außerdem wurden Rohstoffe, Lebensmittel und Industriegüter bereitgestellt.

Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der sich am Wochenende vor Ort ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe machte, sicherte Hilfe zu. "Die Bürokratie wird uns nicht daran hindern, die Großartigkeit dieses Staates wiederherzustellen", sagte Lula. Der Präsident kündigte zudem einen Plan an, mithilfe dessen Katastrophen dieser Art künftig besser vorhergesagt werden können.

Ungünstiger Wetter-Mix, El Niño und Klimawandel lösten Flutkatastrophe in Brasilien aus

Marcelo Seluchi, Meteorologe und Generalkoordinator für Betrieb und Modellierung beim Nationalen Zentrum für die Überwachung und Warnung vor Naturkatastrophen (Cemaden), sagte in einem Interview mit TV Brasil, dass die aktuelle Flutkatastrophe das Ergebnis einer Kombination mehrerer Faktoren sei. Ihm zufolge führt die Hitzewelle in Zentralbrasilien mit hohem Luftdruck zur Bildung von trockener, warmer Luft, die den Durchzug von Kaltfronten in den Norden des Landes blockiert.

Diese Kaltfronten kämen aus Argentinien, erreichten schnell den Süden und könnten nicht weiter vorrücken. "Wir haben eine Reihe von Kaltfronten, die sich festgesetzt haben und die Regenfälle für mehrere Tage in Schach halten", sagte er. Seluchi schloss auch nicht aus, dass die Regenfälle eine Folge von El Niño sind, der sich in seiner Endphase befindet, und indirekt auch des Klimawandels, da die stark erwärmten Ozeane zusätzlich für Verdunstung sorgen - und damit für Regen.

Verwendete Quellen

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Teaserbild: © REUTERS/Diego Vara