Drogenkartelle haben in Ecuador seit Anfang des Jahres eine Welle der Gewalt losgetreten. Johannes Hügel, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ecuador, erklärt die Hintergründe und erklärt, warum Europa und Deutschland handeln müssen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Matern sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Welle der Gewalt, die Ecuador seit Anfang des Jahres erfasst hat, hält das südamerikanische Land fest im Griff. Nach der aufsehenerregenden Geiselnahme im Live-TV und der Ermordung des zuständigen Staatsanwalts stellt sich angesichts der eskalierenden Gewalt zwischen den verschiedenen Drogenbanden die Frage nach den Ursachen der Instabilität.

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Während die Wahrnehmung einer scheinbar plötzlich eskalierten Situation eine spezifisch europäische Interpretation der Geschehnisse ist, erklärt Johannes Hügel, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ecuador, im Gespräch mit unserer Redaktion, dass die in der europäischen Öffentlichkeit wahrgenommene Stabilität Ecuadors mehr Schein als Sein gewesen sei: "Ecuador hatte schon immer Probleme mit kleineren bis mittelgroßen, kriminellen Banden. Im Moment sind etwa 20 vom Präsidenten per Dekret als Terrororganisation eingestuft worden, um mit dem Militär gegen diese vorgehen zu können. Das Bandenproblem an sich existiert aber bereits seit mindestens zwei Dekaden", erklärt der Experte.

Unser Leser Christian Paez-Rodriguez berichtet dazu aus der Hafenstadt Guayaquil: "Im Moment halten wir unsere Türen und Fenster aus Angst vor den verbrecherischen Banden geschlossen. Wir können uns hier zumindest abends nicht frei auf den Straßen bewegen." Er berichtet von Morden durch verfeindete Banden und der Angst des ecuadorianischen Volkes. "Im Prinzip wiederholt sich die Geschichte wie bei Pablo Escobar", sagt Paez-Rodriguez.

Ecuador als Transitland: Drogenkartelle aus Kolumbien und Mexiko üben Einfluss aus

Um die Situation Ecuadors und die Entwicklung der Gewalt nachvollziehen zu können, lohnt ein Blick auf die geographische Lage: Die Nachbarländer Kolumbien und Peru sind weltweit hauptverantwortlich für die Produktion von Kokain. Ecuador selbst gilt dabei als Transitland, durch das eine wichtige Exportroute für die Droge verläuft.

"Drogenkartelle aus Kolumbien, Mexiko, aber auch Europa wollen sich der ecuadorianischen Banden und der Handelsrouten bemächtigen. In der Auseinandersetzung zwischen den Banden geht es schon immer um kriminelle Wirtschaftsinteressen", sagt Hügel. Die Vereinnahmung der Banden führe dabei zu immer brutalerer Gewalt, auch Waffen- und Menschenhandel als Begleiterscheinung des Drogenhandels haben zugenommen.

Experte erklärt Ursachen für Entwicklung der Drogenbanden

Dass die ecuadorianischen Banden überhaupt zunehmend infiltriert werden, hängt derweil auch mit der kolumbianischen Politik zusammen. Präsident Álvaro Uribe (2002 bis 2010) hatte mit seiner harten Gangart die kolumbianischen Drogenhändler in die entlegeneren Gebiete des Landes an der Grenze zu Ecuador getrieben. Ecuador wurde so als Transitland für die Farc-Guerilla, die die Kokainproduktion kontrollierte, interessanter. Nur wenig später begannen auch die ersten mexikanischen Kartelle, sich in Ecuador auszubreiten. Dabei spielte auch die Einführung des Dollars im Jahr 2000 eine Rolle.

"Für die Geschäftsleute im Drogenhandel war die Dollarisierung natürlich wichtig", sagt Hügel. Denn der größte Absatzmarkt für Kokain, die USA, hatten damit die gleiche Währung wie das für Kolumbien interessant werdende Transitland Ecuador. "Andererseits muss man ganz klar sagen, dass die Einführung des Dollars geholfen hat, die damalige Hyperinflation zu beenden und dem Land mehr Stabilität sowie Export- und Investitionsmöglichkeiten zu verschaffen. Gleichermaßen muss man natürlich erwähnen, dass der Dollar die Sparguthaben vieler Menschen entwertet hat; viele sind vor Verzweiflung ausgewandert. Auch die Zahl der Selbstmorde hat in diesem Zeitraum zugenommen."

Die europäische Wahrnehmung Ecuadors hat nach Johannes Hügel auch mit der Romantisierung der Lage unter der Regierung Rafael Correa (2007 bis 2017) zu tun. Correa gilt als Linkspopulist und kann sich auf die Fahnen schreiben, die erste stabile Regierung in Ecuador seit vielen Jahren angeführt zu haben. Doch gleichermaßen setzte er seine Sicherheitskräfte primär im Sinne seiner autoritären Staatsführung ein und vernachlässigte dabei, wie aus einem Bericht der Organisation Insight Crime, die über organisiertes Verbrechen in Lateinamerika forscht, hervorgeht, den Kampf gegen die Drogenbanden.

Entscheidende Verfassungsänderung: Banden profitieren von Abwesenheit des US-Militärs

"Seine Regierung wurde von Drogenhandelsskandalen geplagt und sein autoritärer Führungsstil schwächte die Handlungsfähigkeit des ecuadorianischen Staates und der Zivilgesellschaft, dem Drogenhandel Widerstand zu leisten“, heißt es in dem Bericht. Bevor Correa die Regierungsverantwortung übernahm, habe es ständige Regierungswechsel und keine Mehrheitsverhältnisse im Parlament gegeben, sagt auch Johannes Hügel: "Correa hat eine politische, teils autokratische Dominanz ausgestrahlt. Er hat mit einer Verfassungsänderung 2008 veranlasst, dass keine ausländische Militärbasis mehr in Ecuador gestattet ist."

Mit dieser Änderung wurde das Ausscheiden des US-Militärs aus dem kleinen südamerikanischen Land besiegelt. "Das US-Militär hat die Drogenkartelle allein durch seine Anwesenheit daran gehindert, sich ausbreiten zu können. Nach dessen Abzug haben die Banden schnell viele Landebahnen übernommen und sich gerade in den Küstenregionen, in denen der Staat institutionell schlecht aufgestellt ist, ausbreiten können. Durch fehlende staatliche Kapazitäten und fehlende Technologie, wie beispielsweise Radar oder Drohnen, geriet das Problem mit den Banden immer weiter außer Kontrolle", erläutert Hügel die Konsequenzen.

Die US-Luftwaffe war seit 1999 bis letztlich 2009 in der an der Küste gelegenen Luftwaffenbasis Manta stationiert gewesen und hatte von dort aus durch Überwachungsflüge und andere Operationen den Drogenbanden das Leben schwer gemacht. Ein weiterer Aspekt der Regierungszeit Correas besteht in seinem Resozialisierungsprogramm für kriminelle Banden, das auf eine Einbindung vor allem auch junger Gangmitglieder in das soziale Gefüge setzte. Durch Verhandlung und Kooperation versuchte er, sie in Ausbildung und Arbeit zu bringen.

Experte Hügel über Regierung Correa: Man hat den Banden Tür und Tor zur Politik geöffnet

"Man hat mit diesem Programm letztlich den Banden Tür und Tor zur Politik geöffnet und durch diese fatale Idee mehr Korruption geschaffen", sagt der Experte. "Banden- und Clan-Chefs wurden in Machtpositionen gehoben, in die sie sonst nie gekommen wären." Heute bezeichnet Präsident Noboa jene Banden, mit denen Correa noch zusammengearbeitet hatte, als terroristische Vereinigungen.

Ein weiterer Faktor, der derweil zu wenig Beachtung findet, ist die sozioökonomische Dimension des Problems. "Vor allem in den Küstenregionen und auf dem Land herrscht Perspektivlosigkeit. Unzählige junge Menschen finden dort keine Arbeit. Während die Auswanderung aufgrund eines neuen Abkommens mit den USA schwieriger wurde, gerät ein nicht unerheblicher Anteil der Menschen in die Fänge der Banden", sagt Hügel.

"Zwischen 20.000 und 50.000 junge Leute besuchen die Schulen der kriminellen Banden. Dort werden sie für Erpressungen, Überfälle und mehr ausgebildet. Das wird die Problematik auch in Zukunft verschärfen. Aber es ist ganz klar: Wenn Menschen keine Ausbildungschancen haben und kein Geld verdienen und diese Organisationen ihnen dann das schnelle Geld bieten können, dann braucht man sich nicht wundern", sagt der Experte.

KAS-Büroleiter Hügel: Wir sprechen auch über Menschen- und Kinderhandel

Laut Sozialwissenschaftler Fernando Carrión haben die rund 20 kriminellen Gruppierungen, die für die Kartelle arbeiten, etwa 50.000 Mitglieder. "Dem stehen 38.000 Soldaten und 60.000 Polizisten gegenüber", erklärt er der "taz".

Der große Einfluss der kriminellen Banden durch Korruption und Korrumpierung staatlicher Institutionen wird dabei auch im Bruttoinlandsprodukt Ecuadors deutlich und manifestiere sich als gesamtgesellschaftliches Problem, erläutert Hügel: "Es ist nicht nur ein Drogenhandelproblem. Wir sprechen auch über Menschen- und Kinderhandel, an dem gemäß Insiderinformationen auch europäische Kriminelle aus Belgien oder den Niederlanden beteiligt sein sollen. Nach Schätzungen machen kriminelle Einnahmen bis zu zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes von Ecuador aus. Es ist ein Problem, das sich durch die gesamte Gesellschaft zieht und sich auch beispielsweise in Schutzgeldzahlungen manifestiert. Umso besser kommt es natürlich jetzt an, wenn Daniel Noboa durchgreifen will."

Denn auf die jüngste Eskalation der Gewalt hatte Noboa zunächst mit der Ausrufung des Notstandes und schließlich der Ausrufung des internen bewaffneten Konflikts reagiert und dafür einstimmige Unterstützung vom Parlament bekommen. Auch Ex-Präsident Correa hatte sich positiv geäußert. "Noboas klare Ansagen sind sehr gut angekommen und man spürt eine Art Aufbruchstimmung." Das schildert uns auch unser Leser Christian Paez-Rodriguez, der in Guayaquil, einer Hafenstadt in Ecuador, lebt: "Die große Hoffnung ist nun, dass unser junger Präsident Noboa endlich einen Kurswechsel vollzieht und die verkrusteten Strukturen aufbricht sowie die Bestechung bekämpft."

Präsident von El Salvador als Gegenbeispiel: Human Rights Watch kritisiert Vorgehen

Die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten für die Polizei sind wesentlich erweitert worden. Auch das Militär kann gegen die Banden, die als Terrorgruppen eingestuft wurden, eingesetzt werden. "Der Militärchef Jaime Vela spricht davon, dass man 'das Gute' verteidigen müsse. Doch Noboa muss darauf achten, dass alles im Rahmen des Rechtsstaates und internationaler Abkommen abläuft. Sonst sieht man am Phänomen Bukele, wie es nicht laufen sollte", mahnt Hügel an.

Nayib Bukele, Präsident von El Salvador, hatte im März 2022 den Ausnahmezustand ausgerufen und dadurch die Befugnisse der Sicherheitskräfte wesentlich erweitert. Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch kritisiert das dortige Vorgehen und spricht von "willkürlichen Verhaftungen, gewaltsamem Verschwindenlassen sowie Folter und Misshandlungen im Gefängnis". Die Umstände vieler Todesfälle in Gewahrsam während des Ausnahmezustands ließen auf eine staatliche Verantwortung für diese Todesfälle schließen, sagt die Menschenrechtsorganisation.

Bisher sei in Ecuador allerdings alles im Rahmen der Menschenrechte abgelaufen, sagt Hügel. "Wenn man in der Hauptstadt in Quito lebt, bekommt man von den Maßnahmen auch gar nicht allzu viel mit. Das Leben geht normal weiter wie vorher auch. Ausgangssperren, um militärische Aktionen durchzuführen, gibt es eher in den Küstenregionen. Und ganz allgemein nimmt die Bevölkerung die Militärpräsenz positiv auf. Sie gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit."

Gewalt und Drogenbanden in Ecuador: Auch ein europäisches Problem

Um dem Problem aber langfristig Herr zu werden, fehle es gerade im Hinblick auf das Nachbarland Kolumbien auch an transnationaler Kooperation, kritisiert Hügel: "Ein Staat kann immer nur bis zur Staatsgrenze vorgehen. Hier gab es in der Vergangenheit auch schon diplomatische Skandale, wenn Sicherheitskräfte die Staatsgrenzen überschritten haben."

Nicht umsonst fordert Daniel Noboa internationale Unterstützung in Form von Waffen und geheimdienstlichen Aktivitäten. Und der Investigativjournalist Christian Zurita weist in der "Welt am Sonntag" auf die Bedeutung des Landes für Europa hin: "Ecuador ist das wichtigste Land für den Vertrieb von Kokain nach Europa. Die aus Ecuador stammenden Drogen erreichen die Häfen von Belgien, Holland, Südeuropa und der Türkei."

Dem pflichtet auch Johannes Hügel bei. "Brasilien und Argentinien haben bereits Hilfe angeboten, die Vereinigten Staaten sind bereits mit Aufklärungsmitteln, Personal und Technik in Ecuador aktiv. Auch die EU und Deutschland sollten sich einbringen. Das Kokain aus Ecuador kommt auch in Hamburg und Rostock an. Die deutsche Politik sollte hier also an der Wurzel des Problems ansetzen und Ecuador auch möglicherweise mit gezielter Wirtschaftshilfe, Krediten und einer Entwicklungspolitik zur Seite stehen, die den realen Erfordernissen des Landes gerecht wird“, fordert der Experte.

Das ecuadorianische Staatsdefizit belaufe sich bereits auf 5 Milliarden US-Dollar. Aufgrund dieser Belastung könne der Staat ohnehin nicht investieren und keine langfristigen, wirtschaftlichen Lösungen für die sozialen Probleme angehen. Die alltäglichen Probleme, die sich aus der wirtschaftlichen Lage des Landes ergeben, schildert auch unser Leser Christian Paez-Rodriguez: "Ecuador ist ein armes Land. Zwar halten sich die Strom- und Wasserpreise in Grenzen, doch Benzin und Lebensmittel sind extrem teuer. Auch die Mietpreise kennen nach oben keine Grenzen." Für die aus den vielen Importen resultierenden, hohen Preise hätten viele Bürger nur wenig Verständnis.

"Wir wollen nur unseren Frieden und Sicherheit. Mehr nicht."

Die Bandenkriminalität und die sozioökonomische Situation des Landes sind also eng miteinander verbunden und bedürfen daher auch einer internationalen Bearbeitung, meint auch Hügel: "Es ist keine Herausforderung für Ecuador allein, sondern eine für die ganze Welt. Innerhalb Ecuadors bleibt es sonst eine Art Kampf David gegen Goliath. Das hat man mit der Erschießung des Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio im August 2023 gesehen." Villavicencio hatte sich als Investigativjournalist gegen die Drogenbanden gestellt, Namen veröffentlicht und offen gegen das organisierte Verbrechen gekämpft. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Hauptstadt Quito war er schließlich erschossen worden.

Trotz der großen Herausforderung blickt Johannes Hügel aber nicht ohne Zuversicht in die Zukunft. Während das Land unter anderem aufgrund seines hyperpräsidentiellen Systems immer wieder durch Präsidialdekrete regiert wurde – allein unter Ex-Präsident Guillermo Lasso (Mai 2021 bis November 2023) wurde 22 Mal der Ausnahmezustand ausgerufen –, sich Parlament und Präsident kaum einig wurden und Ersteres immer wieder aufgelöst wurde, erlebt das Land gerade unter Daniel Noboa einen Moment nationaler Einigkeit.

"Vielleicht ist die Krise jetzt der Moment, in dem die politische Klasse versteht, dass durch Zusammenarbeit langfristige Projekte jenseits von Partikularinteressen entwickelt werden können, die die Bildung, die wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern. Denn davon profitiert am Ende die Bevölkerung", sagt Hügel.

Dafür brauche es eine gemeinsame regionale Anstrengung, internationale Kooperation und ein Umdenken in der Entwicklungszusammenarbeit zur Stärkung der staatlichen Institutionen und der Demokratie. "Dann kann dieses wunderbare Land mit seinen warmherzigen und netten Menschen hoffentlich bald einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben, der Arbeitsplätze generiert und den Menschen eine Perspektive bietet."

Das ist bitter nötig, meint auch Christian Paez-Rodriguez: "Wir sind hier so müde. Wir wollen nur unseren Frieden und Sicherheit. Mehr nicht."

Über den Gesprächspartner:

  • Johannes Hügel ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ecuador.

Verwendete Quellen

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