• In immer mehr Bundesländern werden Teile der Querdenken-Bewegung vom Verfassungsschutz beobachtet.
  • Dabei ist die Protestbewegung für den Verfassungsschutz kein einfacher Fall: Ein unübersehbarer Teil besteht aus Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Selbstverwaltern – aber längst nicht alle Querdenker sind Extremisten.
  • Experten klären über die Gefahr auf, die von der "neuen Form" des Extremismus ausgeht.

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Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und nun auch Berlin: In immer mehr Bundesländern sieht der Verfassungsschutz Anhaltspunkte dafür, dass Teile der Querdenker verfassungsfeindliche Bestrebungen haben und stuft sie als Verdachtsfall ein.

Wie die "ARD" aus Sicherheitskreisen erfuhr, errichtete der Berliner Verfassungsschutz ein sogenanntes Sammel-Beobachtungsobjekt. Die Einstufung als Verdachtsfall macht den Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln – etwa den Einsatz von V-Leuten – möglich. Die wichtigsten Fragen:

Wo werden die Querdenker beobachtet?

"Derzeit wird Querdenken in Berlin, Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg durch den Verfassungsschutz beobachtet; teilweise werden auch einzelne, regionale Organisationen – wie beispielsweise in München – besonders intensiv beobachtet", weiß Politikwissenschaftler Josef Holnburger.

In Baden-Württemberg, wo Querdenken entstanden ist, wurden Teile der Protestbewegung zuerst beobachtet. Die dortigen Demonstrationen in Stuttgart waren oft die erfolgreichsten, in der rechtsextremen, esoterischen und rechtspopulistischen Szene gibt es viel Rückhalt. Bayern und Hamburg waren die nächsten Bundesländer, die Querdenken als Verdachtsfall einstuften.

Warum werden die Querdenker beobachtet?

Der Verfassungsschutz begründet seine Beobachtungen mit einer "neuen Form" des Extremismus, der sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet. Die Verfassungsschützer tun sich mit der Einordnung des Phänomens in eine Kategorie schwer, weil die Querdenker Menschen, die aus verschiedenen Motiven mit den Corona-Schutzmaßnahmen nicht einverstanden sind, versammeln. Dazu gehören Impfgegner ebenso wie Esoteriker, Familien mit Kindern und Corona-Leugner.

Simone Rafael, Expertin für Demokratiegefährdung und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung, sagt: "Aus Sicht des Verfassungsschutzes ist die neue Form des Extremismus, der sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet, noch einmal etwas anderes als der Rechtsextremismus mancher der Teilnehmenden." Nach Einschätzung des Berliner Verfassungsschutzes sind Rechtsextremisten nur Teil des Protestgeschehens, haben aber keinen steuernden Einfluss. Experte Holnburger sieht das anders. "Wir sehen eine starke Vernetzung der Führungspersönlichkeiten bei Querdenken mit rechtsextremistischen Akteuren – zuletzt gab es Interviews mit Michael Ballweg durch das vom Verfassungschutz als Verdachtsfall eingestufte Compact Magazin und Interviews mit dem rechtsextremen Schweizer Ignaz Bearth", begründet er.

Querdenker: Wirklich eine "neue Form" des Extremismus?

Holnburger kritisiert auch die Aussage des Verfassungsschutzes, es gebe eine "neue Form" des Extremismus: "Bevor der Verfassungsschutz meint, neue Formen des Extremismus entdecken zu können, sollte er sich mit einer besseren Definition von Antisemitismus und einer generellen Überarbeitung des Extremismusbegriffs befassen", sagt er. Denn es existiere – wie der Verfassungsschutz annehme – keine neutrale und unproblematische Mitte, welche von extremistischen Rändern eingefasst werde.

"Demokratiefeindliche Elemente wie rechtsextreme Einstellungen und Antisemitismus können in der Mitte der Gesellschaft verbreitet sein. Auch die Verbreitung von Verschwörungserzählungen sind kein neues Problem, insbesondere antisemitische Verschwörungsmythen begleiten uns leider schon sehr lange", erklärt Holnburger.

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Wer sind die führenden Köpfe?

Welche Teile der Protestbewegung in Berlin genau beobachtet werden, ist nicht bekannt. Wohl bekannt sind aber die führenden Köpfe der Querdenker: "Entscheidende Rollen nehmen der Querdenken-Gründer Michael Ballweg sowie Markus Haintz und Ralf Ludwig als Anwälte und Aktivisten der Bewegung ein", sagt Experte Holnburger.

Auch Mediziner Bodo Schiffmann, der sich mittlerweile in Tansania aufhält, genieße noch immer große Aufmerksamkeit. Expertin Rafael nennt weitere führende Köpfe: "Telegram-Influencer wie Attila Hildmann, Thorsten Schulte oder Heiko Schrang bespielen teilweise auch die Demonstrations-Bühnen." Alle drei gelten als Verbreiter von Verschwörungsideologien.

Wer ist in der Bewegung prominent?

Weil aber unter der Querdenken-Bewegung mittlerweile mehrere Corona-leugnende-Bewegungen zusammengefasst würden – beispielsweise auch die sogenannten Hygienedemos oder Corona-Rebellen – zählten auch Köpfe außerhalb des direkten Querdenken-Umfelds zu den Prominenten der Bewegung, meint Experte Holnburger.

"Prominente wie Michael Wendler sprachen zeitweise noch Personen außerhalb des Telegram-Querdenken-Universums an; entsprechend werden von Querdenken auch immer wieder Prominente, wie zuletzt Nena, umworben", sagt Holnburger. Außerdem spielten der Journalist und Ost-Europa-Experte Boris Reitschuster, YouTuber Ken Jebsen und "Compact"-Chefredakteur Jürgen Elsässer als Teil eines alternativen Medien-Ökosystems eine große Rolle.

Wie tauschen sich die Querdenker aus?

Bei den Querdenkern ist vor allem ein Messengerdienst hoch im Kurs: Telegram. "Dort kann man sich in eigenen Kanälen und Gruppen ohne Widerspruch organisieren und austauschen", weiß Rafael. Die Querdenker würden dies teilweise sehr strukturiert tun und etwa Mitfahr- und Überachtungsbörsen zu großen Demonstrationen anbieten.

Bei Telegram würden auch Verschwörungsideologien, virtuelle Angriffsziele, Gewaltfantasien und Falschinformationen geteilt, häufig in Video-Form. Holnburger ergänzt: "Es gibt auch eine über Michael Ballweg aufgebaute Struktur abseits von Telegram. Hier wurden schon Personen, welche Ballweg zu sehr kritisierten, von ihm abgesetzt.

Werden die Querdenker bald bundesweit beobachtet?

Forderungen dazu gibt es. "Inhaltlich werden in allen Bundesländern ähnliche Parolen verbreitet, die sich gegen Regierung, Wissenschaft und Presse richten, sowie grundlegend gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung", sagt Rafael.

Dabei würden antisemitische Verschwörungsideologien und Rassismus verbreitet sowie zu Gewalt als vermeintliches Problemlösungsmittel aufgerufen. Weil Rechtsextreme und Reichsbürger bundesweit versuchten, die Diskurse zu formen und zu bestimmen, werde demnächst eine Entscheidung zu einer bundesweiten Beobachtung der Querdenken-Bewegung als Verdachtsfall erörtert.

Deutschlandkarte mit Anzahl der Reichsbürger + Reichsbürger in Polizeibehörden
© 1&1 Mail und Media

Wie gefährlich sind die Querdenker?

Beobachter haben den Querdenkern immer wieder eine zunehmende Radikalisierung attestiert. So ging aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Grünen hervor, dass auch die Bundesregierung eine weitere Radikalisierung der Querdenker-Szene und eine Verbindung mit gewaltaffinen Rechtsextremen befürchtet. Aus Sicht von Rafael verlassen Querdenker zunehmend "den Boden von Beweisführung, Recherche, Faktenevidenz und Expertenwissen" und glaubten stattdessen Verschwörungserzählungen, Lügen und manipulativen Desinformationen.

Seit Pandemiebeginn seien bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie beispielsweise Medienschaffende, Juden und Jüdinnen oder Mediziner und Medizinerinnen vermehrten Angriffen ausgesetzt. Auch Holnburger sagt: "Querdenken ist eine nach rechts offene Bewegung, welche Rechtsextremen in der Vergangenheit und auch jetzt immer wieder eine Plattform boten und auch in Führungspositionen akzeptierte". Das Nicht-Einhalten von Maßnahmen erschwere die Bekämpfung des Virus massiv. Letztlich schade das verschwörungsideologische Weltbild auch der Demokratie.

Über die Experten:
  • Simone Rafael ist Publizistin und Kunsthistorikerin. Sie leitet bei der Amadeu Antonio Stiftung alle Projekte, die sich mit Demokratiegefährdung online und gesellschaftlichen Gegenstrategien befassen.
  • Josef Holnburger ist Politikwissenschaftler und Geschäftsführer des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), welches als gemeinnützige Organisation interdisziplinäre Expertise zu Themen wie Verschwörungs­ideologien, Antisemitismus und Rechtsextremismus bündelt. Holnburger beschäftigt sich wissenschaftlich mit Verschwörungsidelogien, Rechtsextremismus und Antisemitismus.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Simone Rafael
  • Interview mit Josef Holnburger
  • Antwort der Bundesregierung: Inneres und Heimat. Instrumentalisierung der Anti-Corona-Politik-Demonstrationen 26.01.2021
  • Tagesschau.de: Auch Berlin beobachtet Protestbewegung.
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