Wie viele Menschen sich wirklich mit dem Coronavirus infizieren, ist nur schwer zu messen. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich hoch – und das gilt auch für die Todesfälle.

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In Zeiten der Corona-Pandemie ist der Blick auf Daten und Statistiken zur täglichen Gewohnheit geworden. Das Robert-Koch-Institut veröffentlicht die aktuelle Zahl der COVID-19-Infizierten jeden Tag, die amerikanische Johns-Hopkins-Universität schreibt sie sogar rund um die Uhr fort. Doch beim Umgang mit diesen Werten ist Vorsicht geboten.

Coronavirus: Ländervergleiche bei Infizierten kaum möglich

Wer taucht in der Corona-Statistik auf? "Die offiziellen Zahlen umfassen die Personen, die ein positives Testergebnis erhalten haben", erklärt Tobias Kurth, Professor für Public Health und Epidemiologie an der Berliner Charité, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Das bedeutet: Personen, die keine Symptome und die Infektion gar nicht bemerkt haben, tauchen dort nicht auf. Das gilt auch für Infizierte, die sich einfach zu Hause in Quarantäne begeben und sich nicht testen lassen. "Wie hoch die Zahl ausfällt, hängt deshalb davon ab, wie viel man testet", sagt Kurth.

Deswegen sei es auch nur begrenzt aussagekräftig, Statistiken einzelner Länder zu vergleichen. "Die Infiziertenzahl hängt von einer Mischung aus Faktoren ab", so Kurth: "Wie viele Tests stehen in einem Land überhaupt zur Verfügung? Welche Personen werden getestet? Und auch die Politik spielt eine Rolle: Hat der jeweilige Staat das Interesse, die Zahlen an die Öffentlichkeit zu geben?"

Die Dunkelziffer sei eine Unbekannte, erklärt auch Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. "Wir können davon ausgehen, dass sie in Deutschland aufgrund der vielen Tests niedriger ist als zum Beispiel in Japan – aber wie hoch, kann keiner genau sagen." Relativ sicher wisse man nur, dass sie "irgendwo zwischen 30 und 90 Prozent" liegt.

Experten der "London School of Hygiene and Tropical Medicine" haben Schätzungen für die einzelnen Staaten aufgestellt. So haben sie errechnet, dass etwa in Großbritannien womöglich im Schnitt nur 5,4 Prozent aller SARS-CoV-2-Infizierten erfasst werden, in den USA nur 16 Prozent. Für Israel, Norwegen und Australien gehen sie dagegen von Erfassungsraten von bis zu 100 Prozent aus, Deutschland liegt mit einer geschätzten Quote von 47 Prozent dazwischen.

Weitere Studien nötig

Nach Auffassung des Charité-Epidemiologen Tobias Kurth wäre es wichtig, auch die Zahl der Infizierten zu kennen, die nicht getestet wurden. Damit ließe sich die Durchseuchungsrate berechnen – also der Anteil der Bevölkerung, der die Infektion schon durchlaufen hat. Dazu sind jetzt unterschiedliche Forschungsprojekte gestartet, zum Beispiel in München: Die Ludwig-Maximilians-Universität will 4500 zufällig ausgewählte Personen über einen längeren Zeitraum wiederholt testen – auch solche, die keine Symptome zeigen. Der Anteil der Infizierten in dieser Stichprobe ließe sich dann auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen.

Zudem brauche man eine sogenannte Seroprävalenz-Studie, sagt Hajo Zeeb. Damit ließe sich herausfinden, wie viele Menschen die Infektionen schon durchlaufen und Antikörper gebildet haben – und damit hoffentlich gegen das Coronavirus immun sind.

Wichtig wären diese Studien auch wegen einer weiteren Unbekannten: die Zahl der Genesenen. Fakt ist, dass man darüber bisher wenig weiß, sagt Hajo Zeeb: "Vom Robert-Koch-Institut werden die Genesenen nicht systematisch erfasst. Der Fokus dort und in den Gesundheitsbehörden liegt derzeit auf den Menschen, die positiv getestet wurden und möglicherweise behandelt werden müssen."

Unsicherheiten auch bei Todesraten

Mehr Aufschluss über die Betroffenheit einzelner Staaten könnten die Zahlen der Patienten geben, die am Virus gestorben sind. In Deutschland zum Beispiel ist sie im Verhältnis zur offiziellen Infiziertenzahl deutlich niedriger als etwa in den USA, Großbritannien und Italien.

Doch auch hier seien Vergleiche schwierig, gibt Tobias Kurth zu bedenken: "Ein Verstorbener wird als COVID-19-Toter gezählt, wenn ein positiver Test vorhanden ist." Einige Länder testen Verstorbene auf das Coronavirus, andere nicht. Deswegen sei auch die tatsächliche Zahl der Verstorbenen wahrscheinlich deutlich höher als die offizielle Statistik, sagt der Experte.

Das Virus ist überall auf der Welt das gleiche und die Auswertung von Sterberaten auch in Deutschland langwierig. Kurth glaubt daher: Wenn man die Daten langfristig auswertet, werden sich die Todesraten in den einzelnen Ländern wahrscheinlich nicht mehr so stark unterscheiden. Mit einer Einschränkung, ergänzt er: "Sie können stark ansteigen, wo das Gesundheitssystem überlastet ist."

Viel Arbeit für Gesundheitsämter

Eine Forderung ist inzwischen praktisch täglich aus Wissenschaft und Politik zu hören. Man müsse testen, testen, testen. Das würde mehr Licht ins Zahlendunkel bringen – und es einfacher machen, Beschränkungen zu lockern und im Gegenzug Risikogruppen besser zu schützen.

"In Deutschland werden zurzeit etwa 500.000 Tests pro Woche durchgeführt – das ist schon eine Menge", sagt der Bremer Epidemiologe Hajo Zeeb. Die Kapazitäten sind auch hierzulande begrenzt. "Ich glaube, dass wir sehr umfangreich in Krankenhäusern und in Pflegeeinrichtungen testen müssen. Darauf sollte man sich konzentrieren."

Natürlich sei es sinnvoll, mehr zu testen, sagt Charité-Experte Tobias Kurth. Er weist aber auch darauf hin, dass es einen "Rattenschwanz" nach sich ziehe, wenn man Tests auf die breite Bevölkerung ausweiten will: "Die Gesundheitsämter sind schon jetzt zum Teil überlastet und können nicht mehr alle Kontaktpersonen von Infizierten identifizieren und informieren." Deshalb sei es so wichtig, die Zahl der Neuinfizierten zu reduzieren: "Nur dann sind die Gesundheitsämter in der Lage, neue Häufungen von Infektionen auszumachen."

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Tobias Kurth, Charité – Universitätsmedizin Berlin
  • Gespräch mit Prof. Dr. med. Hajo Zeeb, Leibinz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS)
  • The London School of Hygiene & Tropical Medicine: Using a delay-adjusted case fatality ratio to estimate under-reporting
  • Süddeutsche Zeitung 4./5. April 2020: Bayern will Dunkelziffer aufklären
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