1,3? 1,0? Oder 0,7? Eine Stelle hinter dem Komma kann darüber entscheiden, wann in der Coronakrise die ersten Schritte zurück in die Normalität erfolgen können und wie groß diese Schritte sein werden. Was genau steckt hinter der Reproduktionsrate R, über die von Kanzlerin Merkel bis RKI-Chef Wieler derzeit alle reden?

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Angela Merkels Erklärung ging um die Welt. Die Bundeskanzlerin hat physikalische Chemie studiert. Insofern fiel es ihr - verglichen mit anderen Staatsoberhäuptern - recht einfach, die Wichtigkeit einer bestimmten Zahl zu verdeutlichen.

Im Stile einer Wissenschaftlerin dozierte sie über die Reproduktionsrate beziehungsweise den Reproduktionsfaktor: die aktuell in der Coronakrise entscheidende Größe für das weitere Vorgehen der Bundesregierung. Der Wert wird als wichtiger Gradmesser für die Frage erachtet, ob die Corona-Beschränkungen gelockert werden können oder nicht.

Die Reproduktionsrate R sagt aus, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Je niedriger der Wert, desto besser. Liegt die Reproduktionsrate bei über 1, steckt ein Infizierter im Mittel mehr als einen anderen Menschen an - und damit erhöht sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen.

Liegt die Rate unter 1, steckt ein Infizierter im Mittel weniger als einen anderen Menschen an - und die Epidemie läuft nach und nach aus.

Ziel der von der Bundesregierung verhängten Maßnahmen ist also, den statistischen Wert von "R" unter eins zu drücken und die Epidemie so einzudämmen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.

RKI: Reproduktionsrate ist gesunken - Zahl der Neuinfektionen geht zurück

Wie das Robert-Koch-Institut (RKI) Mitte April bekanntgab, wurde durch die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen immerhin ein Zwischenziel erreicht: R in Deutschland sank auf 0,7. Zehn Infizierte stecken damit nur sieben weitere Menschen an - was bedeutet, dass die Zahl der täglichen Neuansteckungen zurückgeht.

Für Anfang März ging das RKI noch von einer "R-Schätzung im Bereich von R gleich 3" aus, danach sank sie sukzessive ab und hatte sich "etwa seit dem 22. März um R gleich 1 stabilisiert".

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Inzwischen ist die Ansteckungsrate mit dem Coronavirus in Deutschland nach Angaben des Robert-Koch-Instituts wieder gestiegen. Laut der am Montagabend veröffentlichten RKI-Statistik steckt jeder Infizierte nunmehr wieder einen weiteren Menschen an, die sogenannte Reproduktionsrate liegt bei 1,0 (Datenstand 27. April 2020, 0.00 Uhr). Das bedeutet, dass die Zahl der Neuerkrankungen nicht mehr leicht zurückgeht wie in den vergangenen Tagen.

RKI-Präsident Lothar Wieler wies beim Medienbriefing am Dienstag (28. April) erneut daraufhin, dass R zwar ein wichtiger Faktor sei, um die Dynamik der Erkrankungen zu berechnen. Gleichzeitig dürfe man aber die Ansteckungsrate nicht als alleinige ausschlaggebende Größe in Betracht ziehen. So seien die täglich gemeldeten Neuinfektionen, die Kapazitäten im Gesundheitssystem und die Testkapazitäten ebenso wichtig.

Es gebe große regionale Unterschiede, sagte Wieler. Die Anzahl der neu übermittelten Todesfälle sei weiterhin hoch, die Sterberate liege nach der Statistik erfasster Fälle inzwischen bei 3,8 Prozent; und es gebe weiter viele Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen.

Nach Schätzungen des RKI haben in Deutschland rund 117.400 Menschen die Infektion überstanden. Wie für andere Länder rechnen Experten auch in Deutschland mit einer hohen Dunkelziffer nicht erfasster Fälle.

Warum die Verdopplungszeit nicht mehr aussagekräftig ist

Zu Beginn der Coronakrise hatte immer die sogenannte Verdopplungszeit als maßgebliche Zahl gegolten, um Trends für die Entscheidungsträger aufzuzeigen. Die Verdopplungszeit soll aussagen, wie viele Tage es dauert, bis sich die Zahl der nachweislich Infizierten verdoppelt hat. Die Berechnung scheint einfach, die Bedeutung der Zahl simpel – je höher, desto besser.

Doch mathematisch gibt es Probleme: "Die Verdopplungszeit wird unter der Annahme berechnet, dass die Anzahl der bekannten Infektionen exponentiell wächst", sagt Moritz Kaßmann, Experte für Angewandte Analysis an der Universität Bielefeld.

Doch die Zahl der registrierten Infizierten wächst nicht mehr exponentiell. Das liegt auch an den bestehenden Einschränkungen im öffentlichen Leben. Damit verliert die Zahl ihre Aussagekraft: "Man kann deswegen keineswegs auf die Zukunft schließen, wie es der Sinn der Verdopplungszeit eigentlich ist", sagt Kaßmann.

Daher starren Politiker, Experten und auch die Bevölkerung nun alle wie gebannt auf die Reproduktionsrate. Allerdings ist auch deren Berechnung komplex.

Reproduktionsrate: Verschiedene Modelle zur Berechnung

Wissenschaftler können verschiedene Modelle wählen und müssen Parameter schätzen. "Mit verschiedenen Methoden kommt man zu verschiedenen Ergebnissen", sagt Kaßmann. Der Mathematiker empfiehlt deshalb für die Kommunikation über die Entwicklung der Corona-Fallzahlen ganz simpel die Zahl der täglichen Neuinfektionen. Der Wert sagt aus, wie viele Menschen täglich neu als Infizierte registriert werden. Sinkt die Zahl über mehrere Tage, kann das als positiver Trend verstanden werden.

Das RKI berechnet R folgendermaßen: Vereinfachend gesagt, nehmen die Wissenschaftler an, dass eine Ansteckung im Schnitt nach vier Tagen erfolgt. Auf dieser Basis werden die gemeldeten Neuinfektionen eines Tages mit den Neuinfektionen vor vier Tagen abgeglichen. Daraus lassen sich dann Trends abzeichnen.

Um Schwankungen von einzelnen Tagen oder vom Wochenende auszugleichen, wird in der Regel der Mittelwert von mehreren vergangenen Tagen berechnet.

Egal, welchen Wert man wählt, eines ist klar: Die Vorhersagen können immer nur so gut sein wie die Zahlen, aus denen sie berechnet wurden.

Verwendete Quellen:

  • Agenturmaterial von dpa und afp
  • Website des Robert-Koch-Instituts
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