Ein elfjähriges Mädchen wird mit Bauchschmerzen in eine Klinik eingeliefert. Die Ärzte operieren – und fördern ein Haarknäuel von der Größe eines Bierkrugs zutage. Die junge Patientin leidet am seltenen Rapunzel-Syndrom. Was ist das? Und wie lässt sich die Erkrankung behandeln?

Mehr zum Thema Gesundheit

Ein elfjähriges Mädchen wird im März 2023 im tschechischen Opava mit Bauchschmerzen in eine Klinik eingeliefert. Die Ärzte entscheiden sich zu operieren – und fördern ein Haarknäuel von der Größe eines Bierkrugs zutage, 20 Zentimeter lang und acht Zentimeter breit. 200 Gramm schwer war das dichte Filzknäuel, das im Magen des Mädchens steckte und tödliche Folgen hätte haben können. Die Ärzte sind sich sicher: Ihre junge Patientin leidet am Rapunzel-Syndrom.

Was ist das Rapunzel-Syndrom?

Das Rapunzel-Syndrom ist eine seltene, aber schwerwiegende psychiatrische Erkrankung, bei der sich die Betroffenen Haare ausreißen (Trichotillomanie) und anschließend schlucken (Trichophagie). Da Haare im Magen nicht verdaut werden können, bildet sich mit der Zeit ein Haarknäuel, das sich wie ein Zopf vom Magen vorbei am Zwölffingerdarm bis in den Dünndarm erstrecken kann. Das gab dem Rapunzel-Syndrom, angelehnt an Grimms Märchenfigur, seinen Namen.

Laut Expertenschätzungen neigen etwa ein bis vier Prozent der Bevölkerung dazu, sich die eigenen Haare als Ventil gegen innere Anspannung auszurupfen. 20 Prozent unter ihnen schlucken die Haare, wovon wiederum bei einem Drittel das Rapunzel-Syndrom auftritt und sich ein sogenannter Trichobezoar im Magen-Darm-Trakt bildet.

Was sind die Ursachen für das Rapunzel-Syndrom?

Ob ein Trichobezoar entsteht, hängt auch mit der Menge und Länge der verschluckten Haare zusammen. Die genauen Hintergründe sind jedoch weitgehend unbekannt, ebenso wie die Ursachen für die Verhaltensstörung. Die Erkrankung tritt häufig in Zusammenhang mit Depressionen, Schizophrenie, Angststörungen oder Essstörungen wie Bulimie und dem Pica-Syndrom auf, bei dem die Betroffenen Dinge essen, die keine Nahrungsmittel sind.

Der erste Fall des Rapunzel-Syndroms wurde 1968 bei einem damals 16-jährigen Mädchen beschrieben. Seitdem sind in der medizinischen Fachliteratur nur etwa 100 Fälle bekannt geworden. Fast ausschließlich waren Mädchen betroffen, die meisten jünger als 20 Jahre. Warum vor allem Mädchen betroffen sind, ist nicht abschließend geklärt. Möglich ist, dass dies auch mit der durchschnittlich längeren Haarlänge bei Mädchen zu tun hat, was die Entstehung eines Trichobezoars begünstigt.

Welche Symptome treten beim Rapunzel-Syndrom auf?

Oft bleibt das Rapunzel-Syndrom jahrelang unerkannt, denn die Mädchen verschweigen ihr Verhalten oder sind sich dessen gar nicht bewusst, bis erste Beschwerden auftreten. Typische Symptome des Rapunzel-Syndroms sind Schmerzen im Oberbauch, Appetitlosigkeit, Verstopfung, ein aufgeblähter Bauch, Gewichtsverlust und kahle Stellen am Kopf, die durch das Ausreißen der Haare entstehen.

Neben Bauchschmerzen kann das Haarknäuel einen Darmverschluss verursachen, wodurch der betroffene Darmabschnitt absterben kann und im schlimmsten Fall zum Tode führt. Eine 38-jährige Patientin in Tucson, Arizona, konnte laut einer Fallstudie kein Essen ohne Erbrechen bei sich behalten. Ihr Magen schwoll an wie ein Ballon, die typischen gluckernden Darmgeräusche fehlten indes komplett. Ein Haarball in Tennisballgröße im Magen mit einem Fortsatz bis in den Zwölffingerdarm und ein zweites Knäuel im Dünndarm hatten bei ihr zu einem Darmverschluss geführt. Eine Operation rettete ihr das Leben.

In manchen Fällen wurden auch Risse in der Magen- oder Darmwand und lebensbedrohliche Entzündungen festgestellt, bei der Frau aus Tucson auch ein Proteinmangel im Blut. Mediziner vermuten, dass die Haare die Darmschleimhaut angreifen und damit die Aufnahme von Nahrungsbestandteilen wie Proteine ins Blut gestört ist.

Wie wird das Rapunzel-Syndrom therapiert?

Haben Mediziner die Ursache für die Beschwerden erst einmal erkannt, wird zunächst versucht, den Haarballen mit Abführmitteln oder Enzymen zu entfernen. In vielen Fällen ist jedoch ein chirurgischer Eingriff nötig, denn alternative Methoden scheitern häufig an der schieren Größe der Filzgebilde.

So wie im Fall eines Mädchens aus Wiesbaden: Laut "Ärztezeitung" zog sich ein steinharter Trichobezoar wie eine Fliese quer durch den Magen der Vierjährigen und ragte noch rund 30 Zentimeter in den Dünndarm hinein. Auch der Versuch, den steinernen Haarknäuel in kleinere Stücke zu zerteilen, blieb ohne Erfolg – das Mädchen musste operiert werden.

Wurde kein Gewebe beschädigt, erholen sich die Patientinnen meist ohne Folgen, sobald das Haarknäuel entfernt wurde. Für Betroffene ist es jedoch wichtig, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um das schädigende Verhalten in Zukunft zu verhindern und die zugrunde liegenden Ursachen der Störung aufzuklären. Bei der Behandlung von Pica-Syndrom und Trichotillomanie sind verhaltenstherapeutische Strategien etabliert und die Wirksamkeit gut belegt. Um Rückfälle zu verhindern, kann auch der Einsatz von Antidepressiva und Antipsychotika sinnvoll sein.

Verwendete Quellen:

  • Springer Medizin: "Rapunzelsyndrom — wenn das Haar den Darm verstopft"
  • Ärztezeitung: "Vierjährige stopft sich mit Haaren und Fasern voll"
  • NIH.gov: Ullah, 2016: "Rapunzel syndrome: a rare cause of hypoproteinaemia and review of literature”
  • NIH.gov: Lopes, 2010: "The Rapunzel Syndrome: An Unusual Trichobezoar Presentation"
  • journals.lww.com: Grant, 2019: "Trichotillomania (hair pulling disorder)”
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "So arbeitet die Redaktion" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen. Unsere Berichterstattung findet in Übereinstimmung mit der Journalism Trust Initiative statt.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.