• Bigorexie ("big/bigger": groß/größer, "-rexie": Appetit), ist eine Form der Essstörung, die hauptsächlich Jungen und Männer betrifft.
  • Dabei dreht sich alles um den Muskelaufbau, der durch strenge Disziplin beim Krafttraining und dem Essen vermehrt werden soll.
  • Das eigene Idealbild vom Körper wird dadurch aber nie erreicht.
  • Eine Expertin für Ess-Störungen erklärt, was hinter der Bigorexie steckt, wie Anzeichen erkannt werden können und was den Betroffenen helfen kann.

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Den "Adonis-Körper" zu besitzen, ist für viele junge Männer das höchste Ziel. Durchtrainiert, muskelbepackt, stark zu sein. Doch im Gegensatz zu Bodybuildern empfinden Bigorexie-Erkrankte eine große Scham, sich in der Öffentlichkeit leicht bekleidet zu zeigen – beispielsweise im Schwimmbad. Denn der eigene Körper ist längst noch nicht perfekt.

"Bigorexie ist eine Essstörung, aber sie äußert sich nicht so wie die klassischen drei Essstörungen Magersucht, Bulimie oder Esssucht", sagt Martina Hartmann, Sucht-Therapeutin aus Berlin. "Die Bigorexie unterscheidet sich zum Beispiel von der Magersucht, der Anorexie, dahingehend, dass die betroffenen jungen Männer eigentlich nicht um jeden Preis dünn werden wollen – sie wollen an Muskelmasse zulegen."
Dabei ist es für Betroffene wichtig, möglichst wenig Körperfett zu haben, aber gleichzeitig viel Muskelaufbau zu betreiben. "Letztendlich ist es so, dass die Betroffenen ihr Leben dem strengen Trainingsplan und dem strengen Ernährungsplan komplett unterordnen."

Jungen mit ängstlicher Persönlichkeit sind häufiger von Bigorexie betroffen

Laut der Expertin sind besonders häufig junge Männer von Bigorexie betroffen, die

  • sogenannte "Spät-Entwickler" sind, also Jugendliche, die noch sehr lange einen schlaksigen Körperbau haben.
  • homosexuell sind.
  • an einer Angststörung leiden und leichter zu zwanghaften Dingen neigen.

Bigorexie als Kontroll-Mechanismus in unsicheren Zeiten

"Kommen dann noch verunsichernde Lebenssituationen hinzu, wie ein Umzug, ein Schulwechsel, die Eltern trennen sich, die Freundin macht Schluss, oder auch eine Pandemie – dann sucht man nach einem Mittel, wie man mit den Ängsten umgehen kann", erklärt Hartmann. "Die Mädchen halten eher Diät, werden dünn, erstellen Essenspläne – und Essenspläne machen die Jungs auch, aber sie trainieren und bauen Muskelmasse auf. Das gibt ihnen das Gefühl: Ich habe in diesen unsicheren Zeiten trotzdem etwas unter Kontrolle. Ich kann etwas tun und mich ablenken von dem Mist, der mich belastet."

Konsum von illegalen Substanzen für den Muskelaufbau

Häufig werden neben dem eiweißreichen Essen auch Shakes, Riegel oder teure Nahrungsergänzungsmittel verwendet, um den Muskelaufbau weiter voranzutreiben, sagt die Expertin. "Die Jungs geben dann ihr ganzes Taschengeld dafür aus." Auch für illegale Substanzen wie anabole Steroide, Anabolika, gäbe es viele Abnehmer: "Man schätzt, dass 200.000 der deutschen Hobby-Sportler irgendwelche Doping-Mittel nehmen – und das ist im Freizeitsport-Bereich schon sehr viel. Bei Jugendlichen tendieren die Zahlen zwischen fünf und 7,5 Prozent, die mit Steroiden und Anabolika herumexperimentieren."

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Die Bigorexie beginnt harmlos

Erste Anzeichen einer Bigorexie sind für Außenstehende schwierig zu erkennen, denn die Krankheit fängt harmlos an, erklärt die Sucht-Therapeutin. "Meist macht der Junge ja nur ein bisschen mehr Sport oder achtet ein bisschen mehr auf seine Ernährung. Das wird von den Eltern natürlich eher begrüßt."

Keine Zeit mehr für Schule und Freunde

Aufmerksam sollte man als Eltern oder Angehörige werden, wenn der Jugendliche…

  • ständig ins Fitness-Studio geht oder ständig daheim trainiert.
  • die Schule oder das Studium vernachlässigt.
  • lustlos gegenüber Dingen ist, die ihm früher Freude bereitet haben.
  • keine Zeit mehr für seine Freundin oder andere soziale Kontakte hat.
  • Trainings- und Essenspläne entwirft.
  • die Essensaufnahme zeitlich streng taktet.
  • auch bei Krankheit weiter Sport treibt.
  • Eiweiß-Shakes, Muskelaufbau-Präparaten oder illegalen Substanzen einnimmt.
  • Anhaltend unzufrieden mit dem Körper ist, auch wenn Muskeln sichtbar sind.
  • gesteigert aggressiv ist (zum Beispiel hervorgerufen durch den Konsum von Anabolika).

Körper-Schema-Störung bei Betroffenen als Ursache, nie zum Ziel zu kommen

"Es liegt bei der Bigorexie eine starke Körper-Schema-Störung vor, das bedeutet, dass sich die Betroffenen als unglaublich dürr und schlaksig wahrnehmen, obwohl sie eigentlich schon wahnsinnig viel Muskelmasse haben", sagt Hartmann. "Und das ist das Dilemma, denn selbst wenn das ständige Training ungesunde Formen annimmt, überlasten sich die Betroffenen weiter. Körperliche Warnsignale werden geleugnet."

Social Media als Anheizer von Bigorexie-Erkrankungen

Als besonders gefährlich sieht die Sucht-Therapeutin den Zuwachs an Muskel-Vorbildern auf Instagram und YouTube: "Als das online anfing, konnte man einen richtigen Schuss nach oben bei den Bigorexie-Erkrankungen feststellen. Die Selfmade-Influencer, die noch nicht einmal eine Trainer-Lizenz haben, sondern sich Muskeln im Selbstversuch aufbauen, erklären den Jungs, wie es angeblich geht und verkaufen nebenbei noch Eiweiß-Präparate, für die sie bezahlt werden."
Gerade das jüngere Publikum könne die Werbung noch nicht kritisch hinterfragen und würde alle Tipps aus den Videos befolgen.

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Unwissenheit über Bigorexie bei vielen Eltern und Angehörigen

Um Betroffenen helfen zu können, ist es hilfreich, das Krankheitsbild zu erkennen, sagt Hartmann. Das ist meist eine Herausforderung: "Unterschwellig war ja erst einmal die Bewunderung für die Disziplin des Jungen da – und irgendwann ist alles aber gekippt. Viele Eltern wissen dann nicht, wohin sie sich wenden können, denn: Ist das überhaupt eine Essstörung? Viele denken auch, zur Beratungsstelle für Essstörungen gehen doch nur Frauen, und magersüchtig ist mein Junge doch nicht. Viele Eltern sind da noch gar nicht gut genug informiert, dass es auch eine Ess-Störung ist, die Krankheitswert hat und dringend behandelt werden muss."

Anzeichen genau benennen, gemeinsam Hilfe besprechen

Wege aus der Bigorexie eröffnen sich, wenn die ersten Warnzeichen von den Angehörigen wahrgenommen werden konnten, sagt die Expertin. Eine Information über das Krankheitsbild helfe, ein Gespräch darüber zu beginnen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
"Alle Anzeichen sollten genau benannt werden, etwa: ‚Mensch, ich nehme wahr, dass du in letzter Zeit wahnsinnig viel trainierst. Es kommt mir gerade nicht gesund vor.‘ Es ist auch wichtig zu wissen, dass man manchmal Dinge nicht allein lösen kann und therapeutische Unterstützung gut wäre."

Problem: Jungs holen sich allgemein weniger Hilfe von außen

Der Gang zur Beratungsstelle oder zum Therapeuten ist jedoch gerade bei Männern ein Hindernis, weiß Hartmann. Junge Männer kämen deutlich seltener zu Beratungsstellen als Frauen. "Ich denke, das liegt auch ein bisschen am männlichen Naturell, sie haben das Gefühl: Ich muss das alleine schaffen, ich bin doch stark und groß, so schwer kann das doch nicht sein. Es wäre ein Eingeständnis von Schwäche, sich Hilfe zu holen."

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Oft ist auch Hilfe für die Eltern nötig

Auch gibt die Sucht-Therapeutin zu bedenken: "Viele betroffene Jugendliche wachsen mit Elternteilen auf, die selbst sehr fitness-begeistert sind. Oder magersüchtige Mädchen haben oft auch eine Mutter, die darunter leidet. Daher ist es wichtig, auch die Eltern gut aufzuklären."

Positive Erfahrungen bei der Krisenbewältigung

Falls Betroffene sich selbst oder durch Zuspruch und Begleitung der Angehörigen getraut haben, Hilfe anzunehmen, seien oft positive Entwicklungen zu sehen, sagt Hartmann.
"In unserer Einrichtung gibt es zum Beispiel therapiebegleitende Gruppen, die sehr hilfreich sind. Manche Betroffene mögen gar nicht mit anderen sprechen, weil die Scham so groß ist, anderen tut es wiederum sehr gut zu hören, dass sie nicht die einzigen sind, denen es so geht. Sie erfahren zum Beispiel, dass es überhaupt nichts mit Dummheit zu tun hat, dass sie diese Störung haben und erfahren von anderen, was ihnen gut getan hat und was bei ihnen funktioniert hat."

Zur Person: Martina Hartmann ist Diplom-Sozialarbeiterin, Sucht-Therapeutin, systemische Beraterin für Kinder und Jugendliche und Adipositas-Trainerin. Sie arbeitet als stellvertretende Projektleitung beim "Dick & Dünn e.V."-Beratungszentrum bei Ess-Störungen in Berlin.
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