Aufsehen zu Beginn der Konferenz der International Aids Society (IAS) im australischen Brisbane: Forschende und WHO verkünden, dass es in Australien bald keine Neuinfektionen mit dem HI-Virus geben könnte. Sie stützen sich auf eine Studie der University of New South Wales.

Mehr zum Thema Gesundheit

Doch wie sieht die Situation in Deutschland aus? Laut dem RKI gab es Ende 2021 schätzungsweise über 90.800 Menschen in Deutschland, die mit HIV oder Aids leben. Mehr als 72.700 davon waren Männer. Die Zahlen sind mit denen des Vorjahres vergleichbar und bewegen sich seit 2019 auf dem niedrigsten Niveau seit den frühen 2000er.

Im Interview mit unserer Redaktion spricht Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe über den Grund dafür, weshalb Stigma immer noch eine so große Rolle spielt und warum nicht alle Menschen in Deutschland von einer der wichtigsten HIV-Schutzmaßnahmen wissen.

Herr Wicht, in Australien sprechen Forschende gerade davon, dass HIV-Übertragungen sich in naher Zukunft gegen null nähern könnten. Wie sieht die Lage in Deutschland aus?

Holger Wicht
Holger Wicht © Deutsche AIDS-Hilfe e.V.

Holger Wicht: Die Aussagen in Australien sind sehr optimistisch – und sicher auch politisch motiviert, damit alle nötigen Mittel eingesetzt werden, um dieses Ziel zu erreichen. Wir unterstützen das natürlich, glauben aber nicht, dass man HIV-Übertragungen in absehbarer Zeit komplett verhindern kann. Es ist unwahrscheinlich, eine sexuell übertragbare Infektion, die erst nach einer gewissen Zeit feststellbar ist, zu 100 Prozent zu kontrollieren. Es ist aber durchaus möglich, die Zahl der Neuinfektionen noch massiv zu reduzieren. Wir beobachten auch in Deutschland schon seit einigen Jahren einen Rückgang der Neuinfektionen, vor allem bei schwulen Männern.

Woran liegt das?

Vor allem an zwei Faktoren. Menschen mit HIV beginnen heute früher mit der Therapie, in der Regel sofort nach der Diagnose. Die Therapie sorgt auch dafür, dass HIV nicht mehr übertragbar ist. Das heißt, auf diese Weise werden auch neue Infektionen verhindert. Auch die medikamentöse HIV-Prophylaxe PrEP (Prä-Expositions-Prophylaxe) verhindert viele Infektionen. Die PrEP wird in Deutschland erst seit 2019 von den Krankenkassen bezahlt.

Wie funktioniert der Schutz vor HIV mit der PrEP?

Ein HIV-Medikament verhindert, dass sich HIV im Körper einnisten kann, wenn es einen Kontakt gibt. Man kann die PrEP entweder über einen längeren Zeitraum einnehmen oder nur für eine kurze Zeit mit Blick auf ein bestimmtes Ereignis. Das können Sexpartys sein bei einem Wochenende in Berlin oder auch eine Reise, wo Sex stattfinden soll, wenn im Zielland HIV besonders häufig vorkommt.

Wichtig ist, dass es sich nicht nur um eine einzelne Pille handelt. Man nimmt sie über mehrere Tage am Stück ein. Damit ausreichend Wirkstoff im Körper ist, ist ein gewisser Vorlauf vor dem sexuellen Ereignis wichtig, auch danach muss das Medikament noch eingenommen werden.

Wann mit der Einnahme begonnen werden muss, hängt von den beim Sex genutzten Geschlechtsorganen ab. Wenn Penis und Analschleimhaut beteiligt sind, zum Beispiel beim Sex unter schwulen cis Männern, kann bis zu zwei Stunden vor dem sexuellen Ereignis mit der Einnahme von zwei Pillen begonnen werden. In der Vaginalschleimhaut braucht es eine Einnahme über etwa sieben Tage, bis genug Wirkstoff vorhanden ist. Eine PrEP sollte auch aus diesen Gründen immer nur nach einer individuellen Beratung eingesetzt werden.

"PrEP verwenden bisher vor allem schwule Männer. Aber es gibt viele Gruppen oder Lebenssituationen, wo PrEP infrage kommen könnte. Etwa bei heterosexuellen Menschen, die auf Reisen Sex haben, wo es viele HIV-Übertragungen gibt. Viele wissen nichts davon oder fühlen sich nicht angesprochen."

Holger Wicht

Welche Probleme gibt es dabei, die Ausbreitung von HIV-Neuinfektionen einzudämmen?

Bei der PrEP sind sich die Experten einig, dass im Moment noch nicht alle Menschen Zugang dazu haben, für die sie die geeignete Schutzmethode wäre. HIV-Praxen, die PrEP verschreiben, haben teilweise Wartelisten. In kleineren Städten gibt es oft gar keine Praxen. Hausärztinnen und -ärzte klären oft nicht ausreichend auf. Oder es gibt Hindernisse und Bedenken. Manche Menschen glauben zum Beispiel, die PrEP habe starke Nebenwirkungen, was in der Regel nicht der Fall ist. Andere wissen gar nicht davon oder trauen sich vielleicht aus Scham nicht, in der Arztpraxis danach zu fragen. Schließlich hat die PrEP mit Sex und wechselnden Partnerinnen und Partnern zu tun.

PrEP verwenden bisher vor allem schwule Männer. Aber es gibt auch andere Gruppen oder Lebenssituationen, wo PrEP infrage kommt. Etwa bei heterosexuellen Menschen, die in Länder reisen, in denen HIV häufig vorkommt, um dort Sex zu haben. Viele wissen nichts von dieser Schutzmöglichkeit oder fühlen sich nicht angesprochen. Da braucht es noch Aufklärung.

Wie steht es derzeit um eine HIV-Impfung?

Es gibt zwar immer wieder Fortschritte in der Impfstoffforschung, aber es ist überhaupt noch nicht absehbar, wann wirklich ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung stehen könnte. Die bisherigen Studien sind am Ende enttäuschend verlaufen, weil einfach nicht genug Schutzwirkung vorlag. Immerhin haben wir bereits die PrEP: Sie ist zwar keine Impfung, schützt aber zuverlässig. Wichtig ist, dass alle Menschen mit HIV-Risiko weltweit Zugang bekommen.

"Menschen lassen sich eher testen, wenn sie das Gefühl haben, sie können das an einem Ort machen, wo sie nicht diskriminiert werden. Wo sie sicher sind und nicht fürchten müssen, dass andere von ihrem Test erfahren."

Holger Wicht

Was muss sich außerdem in Deutschland ändern, damit die HIV-Infektionszahlen sich auf ein Minimum reduzieren?

Wir brauchen noch mehr gute Testangebote für alle, die ein Infektionsrisiko haben. Wenn HIV früh diagnostiziert wird, können Menschen früh mit einer Therapie beginnen – das ist gut für ihre Gesundheit und führt zugleich dazu, dass HIV nicht mehr übertragbar ist.

Die Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung führt auch dazu, dass manche Menschen gar nicht erst zum Test gehen. Sie lassen sich eher testen, wenn sie das Gefühl haben, sie können das an einem Ort machen, wo sie nicht diskriminiert werden. Wo sie sicher sind und nicht fürchten müssen, dass andere von ihrem Test erfahren. Das heißt, wir brauchen möglichst spezialisierte Angebote für bestimmte Communitys und Zielgruppen, etwa für schwule Männer, Menschen mit Migrationshintergrund, Geflüchtete und Drogen konsumierende Menschen. Wichtig ist, dass der Test freiwillig ist und kein Druck auf Menschen lastet.

Mit solchen Angeboten, etwa in den Checkpoints der Aidshilfen oder unserem Einsendetestprojekt s.a.m health, sind wir in Deutschland schon sehr erfolgreich – aber da geht noch einiges. Wir können insgesamt noch sehr viel mehr erreichen.

Zur Person: Holger Wicht ist Pressesprecher der Deutschen Aidsgesellschaft.

Weiterführende Informationen und Beratungsangebote finden Betroffene und alle, die sich über HIV, Testangebote und PrEP weiter informieren möchten, zum Beispiel hier:

Die Informationen in diesem Artikel ersetzen keine persönliche Beratung und Behandlung durch eine Ärztin oder einen Arzt.

Verwendete Quellen:

  • Telefonisches Interview mit Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe.
  • Robert-Koch-Institut: Welt-AIDS-Tag - neue Daten zu HIV/AIDS in Deutschland
  • University of New South Wales: HIV diagnoses in Australia remained low in 2022: new data.
  • Material der dpa
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "So arbeitet die Redaktion" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen. Unsere Berichterstattung findet in Übereinstimmung mit der Journalism Trust Initiative statt.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.