Das Smartphone ist unser täglicher Begleiter. Schon kurz nach dem Aufwachen checken wir Mails, lesen WhatsApp-Nachrichten und informieren uns über das Weltgeschehen. Kurz: Viele von uns sind mittlerweile Smombies – Smartphone-Zombies. Und das hat auch gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung unserer Kinder, sagt Kinder- und Jugendpsychiater und Buchautor Dr. Michael Winterhoff.

Ein Interview

Herr Winterhoff, das Smartphone ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken – sind wir mittlerweile alle Smombies?

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Dr. Michael Winterhoff: Die meisten Menschen schon. Ob man ein Smombie ist, kann man ganz leicht selbst herausfinden. Wir sind keiner, wenn wir selbst entscheiden können, ob wir überhaupt ein Handy haben, ob wir ans Handy gehen und wann wir unsere Mails abrufen.

Wenn wir schon "drauf" sind, dann steuert das Gerät uns. Das heißt, wenn das Handy klingelt, müssen wir sofort reagieren. Damit klinken wir uns immer aus dem aktuellen Geschehen aus. Egal, ob wir gerade mit Freunden unterwegs oder am Arbeitsplatz sind.

Wir werden durch das Smartphone mit Informationen überhäuft, befinden uns immer in einem Ausnahmezustand und müssen zu viele Entscheidungen treffen. Dann steuern wir nicht mehr das Gerät, sondern das Gerät steuert uns.

Was für Auswirkungen hat die übermäßige Smartphone-Nutzung der Eltern auf ihre Kinder?

Da gibt es mehrere Probleme. Zum einen reagieren Eltern nur noch und agieren nicht mehr. Ein einfaches Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie gehen an einem Adventssamstag in einer übervollen Stadt Weihnachtsgeschenke einkaufen.

Ich gebe Ihnen fünf bis zehn Minuten, dann sind Sie nicht mehr Sie selbst, sondern sind völlig durch Reize gesteuert und reagieren nur noch, anstatt überlegt zu handeln – also zu agieren.

Das ist mittlerweile auch im Alltag so. Egal, ob das Telefon klingelt oder das Kind schreit. Durch unsere schnelle Reaktion auf alles bekommt das Kind den Eindruck, dass es den Erwachsenen ebenfalls steuern kann.

Außerdem fordert die übermäßige Nutzung des Internets unsere ganze Konzentration. Wir sind ständig angespannt. Das überträgt sich auf das Kind und macht dieses ebenfalls unruhig.

Das dritte Problem ist, dass wir zu wenig Bindung zu unseren Kindern aufbauen. Wenn eine Mutter zum Beispiel ihr Kind stillt und gleichzeitig am Handy ist, geht nicht mehr ihre ganze Energie in das Kind. Beim Stillen geht es aber nicht um einen reinen Ernährungsakt, sondern auch darum, dass Emotionen fließen.

Fließt unser Gefühl in das Handy, hat das Kind einen hohen Verlust und nicht mehr den emotionalen Bezug, den es eigentlich braucht. Ich erlebe jeden Tag in der Praxis, dass Kinder sich nicht mehr vernünftig entwickeln, sich immer mehr zurückziehen und einsam sind.

Wie hat sich die Kindererziehung im Laufe der letzten Jahre durch Smartphone und Co. verändert?

Wir haben im Zuge der Digitalisierung Mitte der 1990er-Jahre die Kindheit praktisch abgeschafft und sehen seitdem Kinder wie kleine Erwachsene, die möglichst von alleine lernen und alles selbst entscheiden sollen – und darauf sind wir dann auch noch stolz.

Dabei ist die Kindheit die einzige Phase im Leben, in der man keine Verantwortung tragen sollte. Die Kinder sind heutzutage aber auf sich gestellt und müssen sich selbst beschäftigen, weil wir unsere Zeit anderweitig nutzen und unseren Erziehungsaufgaben nicht mehr nachkommen.

Viele Eltern stellen ihre Kinder mit Smartphones oder Tablets ruhig. Was kann das für Auswirkungen auf deren Entwicklung haben?

Die Kinder landen immer häufiger in der Parallelwelt Internet und verlieren den Bezug zur Realität.

Wir geben unseren Kindern gar nicht mehr die Chance, die Welt so zu entdecken, zu erfassen und zu erleben, wie sie wirklich ist. Dabei kann das Gehirn der Kinder mit den vielen Informationen aus dem Internet gar nichts anfangen und sie auch nicht verarbeiten.

Außerdem werden die Kinder ständig vom Smartphone aus ihrem Alltag herausgerissen und abgelenkt. Die 12- bis 16-Jährigen bei mir in der Praxis bekommen teilweise Hunderte WhatsApp-Nachrichten pro Tag, hören dazu noch Musik, surfen im Internet und spielen Games.

Jede freie Minute machen sie irgendwas am Handy. Und was am Ende fehlt, ist der reale Kontakt, den sie so dringend brauchen. Denn der Mensch entwickelt sich nur über echte Beziehungen und Bindungen.

Im schlimmsten Fall fehlt den Kindern dann später ein vernünftiges Fundament, um im späteren Leben klarzukommen. Sie sind als Erwachsene nicht lebenstüchtig, nicht arbeits- und nicht beziehungsfähig.

Wir haben ja jetzt schon die Situation, dass jeder Zweite nach dem Schulabschluss im Job nicht klarkommt. Es fehlt an Arbeitshaltung, Sinn für Pünktlichkeit und am Erkennen von Strukturen und Abläufen.

Wie können wir jetzt noch gegensteuern?

Wir können diesen Zustand innerhalb kürzester Zeit umkehren. Dazu müssen wir alle schauen, dass wir wieder zu uns finden und über unsere Psyche selbst verfügen. Dann können wir auch für unsere Kinder wieder klare Entscheidungen treffen und Verantwortung für sie übernehmen.

Dafür schicke ich meine Patienten in den Wald oder in eine Kirche. Im Wald ist es zu Beginn ein längerer Spaziergang von vier bis fünf Stunden. Die ersten zwei Stunden rattert der Kopf, man hat tausend Gedanken und ist enorm unter Druck.

Und dann ist der Stress plötzlich weg, man hat nicht mehr diesen Tunnelblick und nimmt die Welt ganz anders wahr – es entwickeln sich regelrechte Glücksgefühle.

Im späteren Verlauf reichen dann schon ein bis zwei Stunden Spaziergang. Und nach ein paar Wochen sind sie ein völlig anderer Mensch, der wieder klar denken kann.

Wie und ab wann sollte man einem Kind ein Smartphone geben?

Ich bin der Meinung, dass ein Kind kein Smartphone bekommen sollte, bevor es 14 Jahre alt ist. Kinder bekommen über das Smartphone den Zugang zu einer Welt, in der nicht einmal wir Erwachsene völlig durchsteigen.

Wenn wir immer noch mehr Menschen wollen, die einsam und auf sich gestellt sind und lustorientiert in den Tag leben, dann sollten wir unseren Kindern sehr früh Zugang zu Smartphone und Internet ermöglichen.

Wenn wir aber Erwachsene heranziehen wollen, die lebens- und beziehungsfähig sind und eigenverantwortlich leben können, sind wir momentan auf dem völlig falschen Weg.

Dr. Michael Winterhoff (*1955) ist Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut und Buchautor aus Bonn. Er befasst sich vorrangig mit psychischen Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter aus tiefenpsychologischer Sicht. Sein aktuelles Buch heißt "Die Wiederentdeckung der Kindheit: Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen."
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