Die "binge eating disorder" ist unter den Essstörungen ein relativer Neuling: Erst seit fünf Jahren wird diese psychische Erkrankung diagnostiziert, bei der die Betroffenen schnell viel essen - und zwar buchstäblich, bis es weh tut. Welche Ursachen es für Binge Eating gibt und welche Therapien, erklärte Diplom-Pädagogin Sigrid Borse im Gespräch mit unserer Redaktion.

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Der Begriff "Binge Eating" klingt modern und nicht so, als würde es ihn schon lange geben. Heißt das, dass diese Essstörung erst in den letzten Jahren verstärkt aufgetreten ist?

Sigrid Borse: Dieses Krankheitsbild mit exzessiven Essattacken gibt es schon seit langem, die Diagnose „binge eating disorder“ existiert allerdings erst seit 2013. In unseren Beratungsgesprächen erleben wir seit vielen Jahren Betroffene, die an dieser Essstörung leiden.

Zu viel zu essen ist ja generell nicht gesund, aber nicht jeder, der zu viel isst, ist ein Binge Eater. Was ist also charakteristisch für diese Essstörung?
Menschen, die unter einer Binge-Eating-Störung leiden, haben regelrechte Essattacken mit zumeist hochkalorischen Nahrungsmitteln. Sie essen dabei wesentlich schneller als normalerweise, man kann fast sagen: Sie schlingen ihr Essen hinunter.

Und das, bis sie ein unangenehmes Völlegefühl und Übelkeit verspüren, manchmal sogar darüber hinaus bis hin zu starken Bauchschmerzen. Der Kontrollverlust ist charakteristisch für diese Essstörung, ebenso wie Ekel, Scham und Schuldgefühle nach den Essanfällen.

Wie unterscheidet sich Binge Eating von anderen Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie?
Beim Binge Eating finden keine kompensatorischen Maßnahmen nach dem Essen statt, etwa wie bei der Bulimie in Form von Erbrechen oder exzessivem Sport bei der Magersucht.

Welche körperlichen und psychischen Gründe gibt es für Binge Eating?
Es gibt biologische, psychische und soziokulturelle Gründe für die Entstehung von Essstörungen. Vor allem sind psychische und gesellschaftliche Faktoren entscheidend.

Zum Beispiel entsteht durch das heutige vorherrschende Schlankheitsideal ein Druck, der das Essverhalten insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen negativ beeinflusst und oftmals schon bei sehr jungen Menschen zu einem Diätverhalten führt, das auch in eine Essstörung wie Binge Eating münden kann.

Man spricht beim Binge Eating von einem emotionalen Essen, das heißt, das Essverhalten dient dazu, negative Gefühle zu unterdrücken und damit auszuhalten zu können.

Gibt es Gründe, die speziell Binge Eating besonders begünstigen?
Grundsätzlich sind die Ursachen bei allen Essstörungen ähnlich. Beim Binge Eating kommt allerdings dazu, dass Betroffene oftmals ein Suchtverhalten haben. Sie können nicht aufhören zu essen, auch wenn sie schon körperliche Schmerzen spüren.

Manchmal haben die Betroffenen das Gefühl, sich erst durch diesen körperlichen Schmerz wieder spüren zu können.

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

Betroffene Personen und Angehörige können sich für ein Erstgespräch an eine Beratungsstelle für Essstörungen wenden. Viele Einrichtungen wie auch das Frankfurter Zentrum für Essstörungen bieten Online- und Telefonberatung an.

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, eine ambulante Therapie in einer
psychotherapeutischen Praxis zu machen oder für eine stationäre Behandlung eine Fachklinik für Essstörungen aufzusuchen.

Für viele Betroffene ist es sehr erleichternd zu erfahren, dass es sich bei ihren immer wiederkehrenden Essanfällen nicht um ein persönliches Versagen handelt, sondern um eine schwerwiegende Erkrankung.

Wie können die Betroffenen ihr Verhalten ändern?

Um ihr Essverhalten langfristig zu verändern, müssen die Betroffenen vor allem lernen, mit schwierigen belastenden Gefühlen anders umzugehen. Sie müssen diese Gefühle identifizieren, sich also fragen: Bin ich wirklich hungrig oder eher wütend? Traurig? Ängstlich? Einsam? Und sich dann überlegen, an wen sie diese Gefühle adressieren können, also mit wem sie darüber sprechen können.

Die Gefühle nach außen zu bringen und nicht – im wahrsten Sinn des Wortes - in sich hineinzufressen, ist sehr wichtig. Darüber hinaus gilt es, neue andere Verhaltensweisen zur Problembewältigung, außer dem emotionalen Essen, zu entwickeln.

Wie viele Menschen haben diese Essstörung überhaupt?

Man spricht von einem bis vier Prozent, wahrscheinlich sind es aber mehr. Denn anders als bei Bulimie und Magersucht wird diese Essstörung auch heute noch recht selten erkannt und richtig diagnostiziert. Es ist also mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen.

Sigrid Borse ist Diplom-Pädagogin und Leiterin des Frankfurter Zentrums für Essstörungen . Das Zentrum bietet neben umfangreichen Informationen auf seiner Website www.essstoerungen-frankfurt.de auch eine kostenfreie bundesweite Telefon- und Online-Beratung an.
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