Die deutsche Gesellschaft wird immer älter, immer weniger Menschen zahlen in die Rentenkasse ein. Experten sind sich uneins, ob das Demografie- und Rentenproblem durch jüngere Flüchtlinge gelöst werden könnte.

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Die meisten Menschen, die in den vergangenen Monaten nach Deutschland geflohen sind, sind jung. Zwischen 18 und 34 Jahren betrug das Alter bei rund der Hälfte der Asylbewerber im ersten Halbjahr 2015, fast 30 Prozent waren minderjährig.

"Viele Flüchtlinge werden eines Tages die Rente für die heutige Erwerbsgeneration bezahlen", verkündete kürzlich Thomas Oppermann, der Chef der SPD-Bundestagsfraktion.

Mehr Beschäftigte, mehr Beitragszahler

"Wenn es uns gelingt, die Neuankömmlinge in Arbeit zu bringen, dann haben wir nicht nur mehr Beschäftigte, sondern auch mehr Beitragszahler", erklärte auch Alexander Gunkel, Bundesvorstandsvorsitzender der Deutschen Rentenversicherung gegenüber "Welt Online".

Ist die Zuversicht berechtigt? Können die Flüchtlinge tatsächlich das Demografie- und Rentenproblem in Deutschland lösen?

Nadja Milewski von der Universität Rostock ist skeptisch. "Derzeit sind noch keine präzisen, detaillierten Vorhersagen möglich, weil man gar nicht abschätzen kann, wie viele Menschen in ihre Heimatländer zurückkehren oder wie viele noch durch den Familiennachzug nachkommen werden", erklärt uns die Juniorprofessorin für Demografie.

Auch die Entwicklung der Anerkennungsquote der Asylbewerber sei eine unbekannte Größe. Derzeit liegt sie bei rund 50 Prozent.


"Zwei Seiten ergänzen sich gut"

Grundsätzlich sieht die Wissenschaftlerin bei allen Unabwägbarkeiten durchaus Chancen in der derzeitigen Migrationsbewegung – für die Asylbewerber und die deutsche Gesellschaft.

"Oberflächlich betrachtet, könnte man meinen, dass sich zwei Seiten gut ergänzen", sagt Milewski. "Menschen, die in erster Linie ein neues Zuhause und Arbeit suchen, eine Gesellschaft mit vielen offenen Stellen und Ausbildungsplätzen."

Für eine gelungene Integration müssten aber unter anderem die rechtlichen und regionalen Rahmenbedingungen stimmen: Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse, eine dauerhafte Bleibeperspektive sowie auf Seiten der Zuwanderer der Erwerb der deutschen Sprache.


Überalterung in Deutschland

Soll die Überalterung in Deutschland nachhaltig gestoppt werden, wäre ein dauerhafter Anstieg der Geburtenrate nötig. 1,37 Kinder (Tendenz steigend) bekamen Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zwischen 2011 bis 2013, bei Ausländerinnen waren es 1,80 Kinder (Tendenz stagnierend).

Insgesamt wären aber mehr als zwei Kinder je Frau nötig. "Da nicht bekannt ist, welchen Effekt Traumatisierungen oder der Tod von Kindern im Krieg oder auf der Flucht auf die Geburtsrate bei Migrantinnen haben werden, ist eine stichhaltige Aussage zu möglichen positiven Effekten auf die Überalterung nicht möglich", betont Milewski.


Abhängigkeit von Migration

Fest steht dagegen für viele Experten, dass der deutsche Arbeitsmarkt bei gleichbleibender Geburtenrate auf Migration angewiesen ist: Vor zwei Jahren befanden sich noch 61 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre), laut Statistischen Bundesamtes werden es 2060 noch rund 51 Prozent sein.

Die Folge: Immer mehr Menschen beziehen Rente, immer weniger zahlen in die Sozial- und Rentenkassen ein. Um das Verhältnis zwischen Senioren und Menschen im erwerbsfähigen Alter dauerhaft stabil zu halten, müssten sogar noch mehr Einwanderer ins Land kommen – wenn die Geburtenrate so niedrig bleibt.


Ist Einwanderung die Lösung?

Doch es gibt auch skeptische Stimmen, ob das ein Erfolgsrezept sein kann: Dass die meisten Asylbewerber zeitnah eine Arbeit aufnehmen und durch ihre Beiträge die Sozialversicherungen stabilisieren würden, hält der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen für naiv.

Er rechnet stattdessen mit einer Integration in die sozialen Sicherungssysteme und einer Zunahme der Altersarmut.

Eine Studie der OECD fand dagegen heraus, dass es in Europa fünf bis sechs Jahre dauert, bis die Mehrheit der Flüchtlinge in Arbeit kommt. Nach fünf bis sieben Jahren erwirtschaftet ein Flüchtling mehr, als er den Staat kostet, gab das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung kürzlich bekannt.

"Wir sollten die Fähigkeiten der Menschen, die zu uns kommen, nicht unterschätzen", warnt Alexander Gunkel von der Deutschen Rentenversicherung. "Nur weil viele keinen in Deutschland anerkannten Berufsabschluss hätten, heiße das nicht, dass sie unqualifiziert seien und nicht z. B. als Krankenpfleger arbeiten könnten."


Humaner Aspekt gegen Nutzen-Denken

Ob die Rentenkassen durch die Migranten tatsächlich entlastet werden, ist derzeit noch völlig unklar. Zumindest wäre ein negativer Effekt ausgeschlossen, da die Höhe der Rente vom eingezahlten Betrag abhängt.

"Mich stört, dass über Flüchtlinge häufig nur unter dem wirtschaftlichen oder demografischen Gesichtspunkt diskutiert wird und die Frage in den Mittelpunkt gerückt wird: Wie können sie uns nutzen?", kritisiert dagegen Nadja Milewski.

Der humanitäre Aspekt werde in den Augen der Demografin viel zu oft vernachlässigt.


Zur Person: Nadja Milewski ist Juniorprofessorin für Demografie an der Universität Rostock. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das demografisches Verhalten von internationalen Migranten und die Auswirkung von internationaler Migration auf den Lebenslauf.

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