Im Gegensatz zu den harmlosen Erkältungsviren aus der Corona-Familie kann das Pandemie-Virus das Immunsystem in eine besonders gereizte Alarmstimmung versetzen. Neue Forschungsergebnisse könnten sich nun auf die Behandlung von Covid-19 und Long Covid auswirken.

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Mit harmlosen Corona-Erkältungsviren hat die Menschheit wohl schon seit Jahrhunderten zu tun. Sars-CoV-2 kann weitaus gefährlicher sein als seine Virus-Verwandten: Für manche Menschen ist eine Infektion potenziell lebensbedrohlich und auch langfristige Beschwerden, Long Covid, treten auf. Warum Sars-CoV-2 (noch) kein harmloses Erkältungsvirus ist, ist bisher unklar.

Laut einer aktuellen Studie von Forschenden der University of California in Los Angeles (UCLA) gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den harmlosen und den gefährlicheren Vertretern der Virusfamilie: Die Abbauprodukte von Sars-CoV-2, der Virusschrott, der bei einer Infektion in großen Mengen anfällt, kann Entzündungsprozesse im Körper übermäßig anheizen.

Grund dafür ist die molekulare Ähnlichkeit dieser Bruchstücke mit körpereigenen, sogenannten antimikrobiellen Peptiden (AMP), die es in diesem Umfang bei anderen harmlosen Coronaviren nicht gibt. Die Entdeckung des US-Teams könnte Auswirkungen auf die Behandlung von Covid-19 und vor allem auch Long Covid haben.

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KI entdeckt molekulare Ähnlichkeiten zwischen Virus und Wirt

Die Pandemie ist wohl vorbei, doch die Erforschung von Sars-CoV-2 und dessen, was dieses neue Coronavirus im menschlichen Körper anrichtet, hat gerade erst begonnen. Warum erkranken manche Menschen gar nicht, andere leicht und wieder andere schwer? Warum haben so viele Menschen mit Langzeitfolgen zu kämpfen? Allein in Deutschland geht man von mehreren Hunderttausend Betroffenen aus. Was sind die Ursachen für die Beschwerden, wie können sie verhindert, wie kann Long Covid behandelt werden?

Das Team um Gerard Wong vom Department of Bioengineering der UCLA hat sich bei seiner Arbeit die Unterstützung von Künstlicher Intelligenz (KI) geholt: Die Forschenden fütterten ihre Computer zunächst mit Daten des Coronavirus, das ein relativ großes Genom hat. Aus seinem Erbgut lässt das Virus während des Infektionszyklus in der gekaperten Körperzelle rund 30 verschiedene Proteine herstellen. Die Computer berechneten schließlich, welche verschiedenen Bruchstücke aus diesen Virusbausteinen entstehen können, wenn die Immunabwehr ihre Arbeit macht und die Viren zerstört.

Doch damit nicht genug. Das Team ließ die Software nach molekularen Ähnlichkeiten dieser Bruchstücke mit menschlichen Eiweißen suchen – und wurde fündig. Drei verschiedene "kurze", aus etwa 30 Aminosäuren bestehende Proteinstücke (Peptide) ähneln antimikrobiellen Peptiden, AMPs. Diese werden von menschlichen Zellen produziert, um mikrobielle Krankheitserreger abzutöten.

Was sind Antimikrobielle Peptide (AMP)?

  • "Körpereigene Polypepetide, die meist in großer Menge in Epithelzellen gebildet werden und die sich zum Beispiel auf der Haut und im Darm finden. Die kleinen Moleküle sind reich bestückt mit der Aminosäure Arginin und daher positiv geladen. Sie können mikrobielle Pathogene in unterschiedlicher Art und Weise abtöten. Bei Säugetieren sind zwei wichtige Familien dieser AMP bekannt: Defensine und Cathelicidine." (aus "Immunologie – Grundlagen und Wirkstoffe" - siehe Quellenverzeichnis)

Die "Nachmacher"- oder Mimikry-Peptide des Virus ähneln zum Beispiel dem AMP Cathelicidin LL-37. Das ist ein Abwehrstoff der angeborenen Immunabwehr, der nicht nur Erreger abtötet, sondern das gesamte Immunsystem in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt und Entzündungen besonders stark vorantreiben kann.

Stabile Komplexe aus Virusfragmenten und RNA

Die Studie zeigte außerdem, dass sich die Nachmacher-Peptide mit doppelsträngiger RNA zu Komplexen verbinden können. In einem Organismus, in dem sich gerade ein RNA-Virus wie das Coronavirus vermehrt, ist doppelsträngige RNA in größeren Mengen zu finden.

Die Komplexe aus Nachmacher-Peptid und RNA sind nicht nur besonders stabil und können Wochen bis Monate im Körper überdauern. Sie sind auch in der Lage, eine molekulare Alarmglocke der angeborenen Immunabwehr, den sogenannten Toll-like-Rezeptor 3, zu aktivieren.

Im Labor des US-Teams initiierten die Komplexe jedenfalls die Ausschüttung von Entzündungs- und Immunbotenstoffen in verschiedenen Körperzellen: in Endothelzellen, die die Wände der Blutgefäße auskleiden, in Epithelzellen, die die Oberflächen von Organen begrenzen, und in Immunzellen.

Virenabbau individuell unterschiedlich

Die Ergebnisse der Forschenden zeigen, dass die Zerstörung von Viren durch die Immunabwehr nicht unbedingt das letzte Wort in der Auseinandersetzung zwischen Virus und Wirt sein muss. "Was wir gefunden haben, weicht vom Standardbild einer Virusinfektion ab", sagt Gerard Wong in einer Pressemitteilung seiner Universität. In den Lehrbüchern stehe, dass nach der Zerstörung des Virus der kranke Wirt gewinne und verschiedene Virusstückchen lediglich dazu verwendet würden, um das Immunsystem für die künftige Erkennung zu trainieren. "Covid-19 erinnert uns daran, dass es nicht so einfach ist."

Die Studie liefert neue Erklärungsansätze für offene Fragen der Corona-Forschung – zum Beispiel, warum manche Menschen kaum, andere dagegen heftig an Covid-19 erkranken. Die Art und Weise, wie die menschlichen Immunzellen dem Virus mit molekularen Scheren, also abbauenden Enzymen, zu Leibe rücken, ist individuell unterschiedlich. Die am Virusabbau beteiligten Enzyme, etwa die "neutrophile Elastase", arbeiten vermutlich genetisch bedingt mit bis zu 50-fach unterschiedlicher Effizienz.

So kann es sein, dass bei einem Menschen im Rahmen einer Sars-CoV-2-Infektion besonders viele Mimikry-Peptide freigesetzt werden, wodurch Entzündungsprozesse und damit die Symptome extrem stark anlaufen. Bei einem anderen geschieht dies dagegen kaum, weil die verantwortlichen Enzyme nur eine schwache Leistung erbringen.

Gerard Wong hält es für möglich, dass sich aus dieser Entdeckung ganz neue Therapieoptionen ableiten lassen: "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir in der Lage sein könnten, Covid-19 durch die Hemmung bestimmter Enzyme oder die Verstärkung anderer Enzyme zu behandeln." Bis dahin ist es natürlich noch ein weiter Weg. Der Schritt von der KI-gesteuerten Suche bis zur Wirkung der Komplexe aus Nachmacher-Peptid und RNA auf Zellkulturen ist zwar getan. Aber in welchem Umfang diese Prozesse tatsächlich während oder auch nach einer Infektion im menschlichen Organismus eine Rolle spielen, ist noch unbekannt.

Ähnlichkeiten mit Autoimmunerkrankungen

Der US-amerikanische Mediziner und Covid-Experte Erik Topol sieht in der Studie der Kalifornier jedenfalls eine wichtige Entdeckung für das Verständnis von Long Covid.

"Die Bildung von Komplexen zwischen viralen Peptidfragmenten und Nukleinsäuren (RNA) kann längerfristige Folgen haben, die über die akute Entzündung hinausgeht", schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie. Die komplexe, kompakte Struktur schütze sowohl die Peptid- als auch die Nukleinsäurekomponente vor einem raschen Abbau im Wirt. Wenn es gelänge, die Bildung solch langlebiger Komplexe von vornherein zu verhindern, ließen sich manche langwierigen Beschwerden nach einer Coronainfektion vermeiden.

Dass es sich lohnt, die Spur der Kalifornier weiterzuverfolgen, zeigt noch ein weiterer Zusammenhang: Auch bei Autoimmunerkrankungen wie der rheumatoiden Arthritis, Schuppenflechte oder Lupus spielen antimikrobielle Peptide eine ungute Rolle. Einige Symptome von Covid-19 oder Long Covid – wie Erschöpfungszustände, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie Hautausschläge – erinnern an Autoimmunerkrankungen.

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