• In Ihrem Buch "Konsens ist sexy" schreibt Nadine Primo über persönliche Erlebnisse aus ihrem Alltag als bisexuelle Frau.
  • Im Interview mit unserer Redaktion erzählt sie von Vorurteilen, mit denen sie sich konfrontiert sieht und erklärt, welche Probleme es in Partnerschaften geben kann.
Ein Interview

In Ihrem Buch "Konsens ist sexy" schreiben Sie über Identifikation und Abgrenzung. Welchen Anteil hat unsere sexuelle Orientierung bei der Frage, wer wir sind oder sein wollen?

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Nadine Primo: Bei Bisexualität zum Beispiel herrschen immer noch sehr viele Vorurteile und Klischees vor. Eins davon ist, dass Bisexualität gar nicht existiert, dass sie eine sexuelle Orientierung ist, die irgendwann entweder hetero- oder homosexuell wird, aber eben nicht für sich steht. Und das hat mir persönlich gerade in meiner Jugend das Leben schwer gemacht, weil ich mich dadurch hinterfragen musste. So nach dem Motto "Was stimmt denn jetzt mit mir nicht?" Ich stehe auf Frauen und Männer, fühle mich zu beiden Geschlechtern hingezogen. Damals, Ende der 90er, hatten wir noch nicht die Geschlechterdebatte darüber, dass es mehr gibt als Mann und Frau.

Inwiefern hat die Gesellschaft dazu beigetragen, dass Sie sich selbst auch hinterfragt haben?

Ich musste mich oft vor Menschen rechtfertigen. Was ich damit meine, bisexuell zu sein. Kannst du nicht treu sein? Kannst du dich nicht entscheiden? Willst du einfach nur ständig Sex haben? Willst du dich ausprobieren? Mit solchen Fragen wurde meine Identität infrage gestellt und von Anfang an sehr negativ dargestellt.

In einer Studie des Online-Dating-Portals JoyClub gaben bei der Frage nach der eigenen sexuellen Orientierung 43,7 Prozent der Teilnehmenden (Frauen: 58,9 Prozent; Männer: 38,1 Prozent) an, bisexuell oder zumindest bi-interessiert zu sein – wobei die Gewichtung stärker auf bi-interessiert lag (27,6 Prozent). Wieso wird in bi und bi-interessiert unterschieden?

Das resultiert aus der Unwissenheit darüber, was Bisexualität eigentlich ist. Wenn ich zum Beispiel mit einer Frau zusammen wäre, würde ich als homosexuell gelten. Wenn ich mit einem Mann zusammen wäre, wäre ich heterosexuell. Dadurch entsteht das Problem: Was genau ist eigentlich Bisexualität? Ich finde es nicht erstaunlich, dass der Großteil angibt, lediglich bi-interessiert zu sein. Die Vorstellung, eine gleichgeschlechtliche Erfahrung zu machen, haben viele, aber sie sprechen nicht darüber, aus Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen im Sinne von Ausgrenzung. Oder aber dem Gedanken, danach nicht mehr "zurückzukönnen", zurück in die Welt der Heteros. Bi-interessiert klingt wie bi auf Probe – einfach mal testen, nicht abgeneigt, aber eben auch noch nicht überzeugt.

Welche gesellschaftlichen Sanktionen meinen Sie?

Ein Beispiel: Bisexuelle Männer outen sich in der Regel erst sehr spät als bisexuell, weil sie Angst haben, dass ihnen von der Gesellschaft ihre Männlichkeit abgesprochen wird. Frauen outen sich oftmals nicht als bisexuell, weil sie Angst haben, dass sie nur als Lustobjekt wahrgenommen werden.

Inwiefern?

Frauen haben leider nach wie vor Probleme, in gewissen Bereichen wahrgenommen zu werden, ohne gleichzeitig sexualisiert zu werden. Als bisexuelle Frau kann sich das noch verstärken. Da ist man die Traumvorstellung eines pornoschauenden Jünglings. Bisexuelle Frauen sind in Pornos heiß begehrt.

Sie haben auch gesagt, dass viele nicht wüssten, was Bisexualität ist. Wie meinen Sie das?

Es ist ein Problem, dass manche denken, Bisexualität müsse zwangsläufig damit einhergehen, dass man sowohl eine lange gleichgeschlechtliche als auch eine andersgeschlechtliche Beziehung hatte. Doch das ist bei manchen gar nicht so. Vielleicht ist eine Frau immer mit einem Mann zusammen gewesen, aber trotzdem würde sie gerne mal eine Frau anfassen. Das würden viele dann wohl als bi-interessiert bezeichnen. Aber das ist meiner Meinung nach Nonsens. Sexuelle Orientierung geht von Anziehung aus. Und wenn ich mich zu allen Geschlechtern hingezogen fühle, bin ich eben bisexuell.

Denken Sie, dass Bisexualität in der Gesellschaft noch nicht so akzeptiert ist wie etwa Homosexualität?

Ja, aktuell leider noch nicht. In der LGBTQIA+-Community* ist die Gruppe der Bisexuellen zahlenmäßig zwar die größte, denn es gibt viele, die versteckte gleichgeschlechtliche Sehnsüchte oder Ähnliches teilen, darüber aber nicht offen sprechen, und dennoch haben Bisexuelle die kleinste Lobby. Das sieht bei den Homosexuellen zum Beispiel ganz anders aus. Es gibt also jede Menge Aufholbedarf, da Bisexualität lange als nichts Halbes und nichts Ganzes wahrgenommen und auch nicht genug darüber gesprochen wurde. Deswegen ist es mir ein Anliegen, mehr drüber zu sprechen.

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Wie gehen Sie damit um, wenn jemand Sie mit Klischees konfrontiert?

Das kommt ganz darauf an, in welchem Kontext ich angesprochen werde. Im Arbeitskontext kann ich mittlerweile sehr sachlich und wenig emotional reagieren. Im Privaten – das muss ich ganz ehrlich sagen – fällt mir das teilweise schwer. Wenn mir etwas an einem Menschen liegt, aber diese Vorurteile zwischen uns stehen, ist das besonders frustrierend. Aber so etwas ermutigt mich auch, noch mehr Welle zu machen. Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen, bis der oder die Letzte verstanden hat, dass diese Vorurteile und Klischees unbegründet sind.

Wenn jemand mehr über Bisexualität erfahren möchte, wie würden Sie sich wünschen, darauf angesprochen zu werden?

Der Ton macht die Musik. Solange wir gewaltfrei kommunizieren, können wir über alles sprechen. Wenn jemand zu mir kommt und offen sagt "Nadine, ich habe gesehen, dass du bisexuell bist und auch darüber schreibst. Hättest du Lust, mir eine Frage zu beantworten?", dann sage ich gerne Ja. Ich finde es wichtig, dass wir uns gegenseitig bereichern und austauschen. Dazu gehört auch, zuzugeben, wenn man in bestimmten Themengebieten nicht genug Wissen hat.

Sind Sie auch schon in Situationen gekommen, in denen Sie verletzt wurden?

Ja, aber das war im Kontext eines Übergriffs, der auch Homosexuellen hätte passieren können. Ich war mit einer Frau unterwegs und uns wurde zum Verhängnis, dass wir in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten ausgetauscht haben. Das ist in Köln passiert, einer meiner Meinung nach sehr fortschrittlichen Stadt. Aber das hat mir wieder gezeigt, dass wir gerne weitaus aufgeklärter wären, als wir es sind. In Berlin gab es 450 Übergriffe auf Homosexuelle und Transmenschen im vergangenen Jahr. Das sind erschreckende Zahlen. Mehr als einmal am Tag gibt es einen Übergriff. Und es gab einmal eine Situation mit einem Menschen, der mir wirklich sehr am Herzen lag …

Was ist passiert?

Wir haben gemerkt, dass unsere Vorstellungen von Beziehungen nicht übereinstimmen. Er hat versucht, das daran festzumachen, dass es an meiner Bisexualität liegt. Das hat mir sehr wehgetan, weil meine Bisexualität zuvor nie ein Problem war. Im Gegenteil: Da hat es ihm sehr gut gefallen, dass er vielleicht mal die Option auf einen spontanen Dreier mit mir und Person X hat. Aber als es dann ernst wurde, wurde mir meine Bisexualität um die Ohren gehauen.

Haben Sie das Gefühl, dass sich Bisexualität in gewisser Weise auf Beziehungen auswirken kann?

Da finde ich es schwer, verallgemeinernde Aussagen zu treffen. Aber es gibt auf jeden Fall Konfliktpotenzial, weil eben hier und da noch die Aufklärung fehlt. Das ist zum Beispiel auch der Grund, warum weibliche Bekannte aus meinem Umfeld ihre Bisexualität teilweise gar nicht preisgeben. Sie haben Angst, dass ihr Partner sie dann zum Sexobjekt macht oder Dreier mit einer anderen Frau vorschlägt. Aber es gibt auch Männer, die sich von weiblicher Bisexualität bedroht fühlen. Sie sagen: "Das ist etwas, das ich dir ja nicht geben kann." Sie sehen in anderen Frauen nicht den doppelten Lustgewinn, sondern eine Konkurrentin. Aber am Ende liegt es am Beziehungspartner. Da müssen Paare offen und ehrlich über alle Ängste reden und gemeinsam einen Weg finden.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass lesbische Frauen oft mit bestimmten Äußerlichkeiten abgestempelt werden, vor allem typisch männlichen Attributen. Wie verhält sich das bei Bisexuellen?

Es ist witzig, dass Sie das fragen. Ich habe mich recht lange dagegen gewehrt, dass es Vorurteile über das Aussehen Bisexueller gibt. Über die Wissenschaftlerin Julia Shaw, die sehr viel zu Bisexualität arbeitet, bin ich zu Studien gekommen. Diese besagen, dass Bisexuelle, wenn man sie in ein Raster quetschen müsste, übergroße Lederjacken tragen, alternativ unterwegs sind und einen schleifenden Gang haben. Ich habe drüber gelacht, dann in den Spiegel geschaut und meine große Lederjacke gesehen. Mir wurde allerdings schon gesagt, dass meine Stimme sehr tief ist und ich deshalb bestimmt der Mann sei. Auch wegen meiner dominanten Art. Das fand ich sehr bezeichnend, weil es ein blödes Vorurteil ist. Und zweitens: Warum können Frauen nicht dominant sein?

Aus Ihren Erzählungen schließe ich, dass Sie als bisexuelle Frau in mehrere Schubladen gesteckt werden. Wie ist das bei bisexuellen Männern?

Bei Männern habe ich sehr oft zu hören bekommen, dass sie Angst vor Degradierung durch die Gesellschaft haben, dass ihnen ihre Männlichkeit abgesprochen wird. Bei vielen Männern und auch Frauen schwingen viele Ängste mit, die noch aus alten, konservativen, überholten Rollenbildern entstehen. Einige erlauben sich deshalb gar nicht erst, ihr Verlangen oder ihre Sehnsucht auszuleben. Und ein großer Punkt ist auch die Frage: Was werden wohl meine Familie und meine Freunde dazu sagen?

Sie haben sich das Ziel gesetzt, Bisexualität zu thematisieren und für Offenheit und Akzeptanz zu werben. Was hat sich in den vergangenen Jahren bereits getan und wo sehen Sie noch die größten Hürden?

Einiges hat sich getan. Beispiel Blutspende-Verbot. Da waren bisexuelle Männer genauso inkludiert wie homosexuelle Männer. Solche rechtlichen Strukturen und strukturelle Diskriminierung darf es nicht geben. Und da gibt es hier und da bestimmt noch ein bisschen Handlungsbedarf. Wenn ich so an meine Arbeit denke, habe ich das Gefühl, dass Bisexualität mittlerweile viel präsenter ist, etwa in der Medienlandschaft. Außerdem gibt es mittlerweile die Bi+Pride. Parallel zum CSD [Christopher Street Day] findet sie im September in Hamburg statt, wo dann alle Menschen feiern, die bisexuell bisexuell, pansexuell, queer, omnisexuell, polysexuell, homo- oder heteroflexibel sind.

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Die ganzen Begrifflichkeiten können aber auch verwirrend sein …

Ich empfinde das teilweise schon ein bisschen als Label-Wahnsinn. Mit Bisexualität haben wir einen Begriff, der sprachhistorisch gesehen das abdeckt, was Bisexualität abdecken soll. Da ist noch jede Menge dazugekommen: omnisexuell und pansexuell etwa. Ich weiß nicht, was es bringen soll, immer neue Schubladen aufzumachen. Eigentlich ist das Ziel der Bewegung, dass alle am Ende die gleichen Rechte haben und sich ohne Angst vor Diskriminierung frei entfalten können. Deshalb denke ich, wir brauchen nicht noch mehr Schubladen. Natürlich gibt es gewisse Gruppen, die noch viel stärker unterstützt werden müssen. Aber bei so vielen Unterkategorien exkludiert man Menschen allein aufgrund des sprachlichen Diskurses und schlittert am Ziel vorbei.

Werden Bisexuelle in der LGBTQIA+-Community auch mal ausgeschlossen?

Ja, auch in diesen Kreisen werden Bisexuelle oft nicht akzeptiert. Einige lesbische Frauen wollten mich gar nicht erst daten, weil ich bisexuell bin. Das ist Diskriminierung. Wenn man sich die Statistiken zum Thema queere Gesundheit anschaut, sind leider bisexuelle Menschen ganz weit vorne mit dabei, was Depressionen, Suchterkrankungen und Angststörung angeht. Weil diese sexuelle Orientierung teilweise nicht so ernstgenommen wird wie Hetero- oder Homosexualität. Da gibt es auch innerhalb der Community noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Aber das gilt für die anderen Gruppen genauso: Bei lesbischen Frauen sind die Suizidraten vergleichsweise hoch, bei Transmenschen sind es Angst- und Belastungsstörungen sowie hohe Suizidraten unter den Jüngeren und homosexuelle Männer fallen durch ein erhöhtes Potenzial für Suchterkrankungen auf.

*LGBTQIA+ ist eine englische Abkürzung. Die deutsche Entsprechung wäre LSBTTIQ (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, transsexuell, intersexuell, queer). Das + in LGBTQIA+ soll verdeutlichen, dass es noch mehr sexuelle Identitäten oder Geschlechts-Identitäten gibt.
Zur Person: Nadine Primo studierte Romanistik und Internationale Geschichte der Neuzeit (M.A.) in Bonn. Mittlerweile lebt sie in Berlin und ist selbstständig als freie Autorin, Speakerin (Podcast/ Radio/TV), Content Creatorin und Model tätig. Auf ihrem Blog nadine-primo.com und bei Instagram teilt sie persönliche Erlebnisse aus ihrem Alltag als bisexuelle Frau und spricht über mentale Gesundheit, insbesondere Depressionen – nicht nur in der queeren Community. Sie ist außerdem Redakteurin des WDR2-Sexpodcasts "OHJAAA" und hostete den Sexpodcast "INTIM" mit Ben für Eis.de. Außerdem schrieb sie die Kolumne "bi happy" für das "beziehungsweise-magazin".

Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).

Hilfsangebote für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.

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