Der Puls verlangsamt sich. Ein Kribbeln im Bauch, ein Prickeln im Nacken, das sich dann über die Wirbelsäule in den ganzen Körper ausbreitet - und das dank Videos, bei denen geflüstert, geknistert, gegessen oder Schleim in der Hand zerdrückt wird? Dieser Trend nennt sich ASMR, beruhigt und bekämpft angeblich Stress. Wir gehen dem Phänomen ASMR auf den Grund.

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ASMR, kurz für Autonomous Sensory Meridian Response, heißt das Zaubermittel, das von vielen als angenehm und beruhigend empfunden wird. Eine deutsche Übersetzung gibt es bisher nicht, Experten sagt der Begriff kaum etwas. Als "Orgasmus fürs Gehirn" beschreiben Fans das Erlebnis. Eine Art "Kopfkribbeln", ausgelöst durch auditive oder visuelle Reize.

Dabei flüstern ASMR-Künstler ins Mikrofon, geben Massagen, streichen über verschiedene Oberflächen oder knistern mit Folien. Was auf den ersten Blick befremdlich wirkt, zeigt schon nach kurzer Zeit seine Wirkung. Die dabei erzeugten Geräusche und Trigger lassen den Zuschauer entspannen und lösen im besten Fall bestimmte Sinnesreize aus. Das Gehirn reagiert auf diese als angenehm empfundenen Klänge mit einem wohltuenden Kopfkribbeln.

ASMR erobert das Internet

Neu ist der Trend nicht mehr, doch ASMR-Clips dienen immer mehr Menschen als Entspannungs- oder Einschlafmethode und wurden in den letzten Jahren zu einem YouTube-Phänomen auf das mittlerweile Stars oder Marken - auch im deutschsprachigen Raum - aufgesprungen sind. Die deutsche ASMR-Community ist noch überschaubar, auch wenn es inzwischen weltweit mehr und mehr Menschen gibt, die diese Videos produzieren und konsumieren.

Ganze Subgenres haben sich so gebildet. Sehr beliebt sind Rollenspiele wie Friseurbesuche, Massagen, das ausgedehnte Falten von Handtüchern, und sogar Essensgeräusche. Man kann sich von Kate Hudson einlullen oder zur Reise auf ferne Planeten überreden lassen.

ASMR ist kein exklusives Phänomen des digitalen Zeitalters, man denke nur zurück an Bob Ross, den talentierten "Flüstermaler". Plattformen wie YouTube haben aber entscheidend dazu beigetragen, es bekannter zu machen.

Häufig sind es hübsche, junge Frauen, die mit Rollenspielen bei den Zuschauern ASMR auslösen wollen. Immer freundlich, meistens lächelnd sprechen sie sanft in die Kamera. Einen sexuellen Zusammenhang weist die ASMR-Gemeinde jedoch zurück.

Das Phänomen ASMR kommt aus den USA

Mit ausgelöst wurde der ASMR-Hype von Nutzerin Maria, einer blonden Amerikanerin mit russischer Abstammung und einer Begabung, Menschen in ihren Bann zu ziehen. Mit einer wahren Engelsstimme flüstert sie in die Kamera und will ihre Fans so vom Alltagsstress befreien.

Ihr Youtube Kanal "GentleWhispering" dürfte mit 1,6 Millionen Abonnenten zu den weltweit erfolgreichsten gehören. Maria startete ihr Projekt bereits 2011, nachdem andere "ASMRtists" – wie die flüsternden Youtube-Stars innerhalb der Community genannt werden – ihr angeblich dabei geholfen hätten, eine Depression zu überstehen.

Ihre Videos schauen im Schnitt zwei bis sechs Millionen Internet-User, manchmal sogar 15 Millionen.

ASMR – Das sagt die Wissenschaft

Wissenschaftliche Untersuchungen über ASMR, die Hinweise auf die tatsächliche Existenz, Ursache und Wirkung des Phänomens geben könnten, sind bisher spärlich gesät.

Erste Studien haben jedoch nachweisen können, dass ASMR positive Auswirkungen auf Einschlafstörungen und Angstzustände haben kann und stimmungsaufhellend wirkt. So zeigten Teilnehmer einer britischen Studie von 2015 beim Betrachten eine erstaunliche Verbesserung ihrer Laune, die noch Stunden später anhielt. Besonders ausgeprägt war die Wirkung bei Personen, die zuvor eher unglücklich gewesen waren. Ebenfalls bei Personen mit chronischen Schmerzen stellten die Forscher eine Verbesserung fest.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um die Psychologin Giulia Poerio von der Sheffield University in England hat kürzlich in einer Studie empirisch untersucht, ob ASMR tatsächlich konsistent auftritt und ob es messbare physiologische und psychologische Effekte hat.

Das Ergebnis bestätigte die Annahme, dass ASMR-Videos funktionieren können. Viele Teilnehmer spürten beim Ansehen deutlich ein Kribbeln und fühlten sich entspannter und ruhiger. Auch die physischen Messwerte zeigten eindeutige Unterschiede: Die elektrodermale Aktivität war höher, die Patienten waren also emotional erregter. Gleichzeitig lag der Herzschlag um mehr als drei Schläge pro Minute niedriger.

ASMR wirkt nicht bei jedem

Andere Teilnehmer hingegen spürten keinerlei Unterschied. Nicht jeder oder jede ist offenbar sensibel für ASMR. Manche Menschen lassen Flüstern, Kratzen oder Glockenklänge komplett kalt, während anderen die Klänge wortwörtlich unter die Haut gehen.

Das Team um die Psychologin hofft, dass die ASMR-Forschung durch die Studie ins Rollen gebracht wird und, dass die Möglichkeiten eines therapeutischen Einsatzes von ASMR gegen Depressionen und Schlafstörungen in den nächsten Jahren erforscht und weiterentwickelt werden.

Verwendete Quellen:

  • Studie: "Autonomous sensory meridian response (ASMR) is characterized by reliable changes in affect and physiology"
  • Studie: "Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR): A flow-like mental state"
  • Süddeutsche Zeitung: "Orgasmus fürs Gehirn”
  • heise online: "ASMR auf Rezept"
  • adhspedia: "Autonomous Sensory Meridian Response"


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