• Für die meisten Menschen ist die Antarktis eine Eiswüste am anderen Ende der Welt - aber die Veränderungen dort im Zuge des Klimawandels haben einen direkten Einfluss auf unser aller Leben.
  • Die Physikerin Ricarda Winkelmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung erklärt im Interview, warum das so ist.
  • Außerdem erläutert sie, warum die Polarregionen unser Frühwarnsystem in Sachen Klima sind und warnt: "Dieses Frühwarnsystem schlägt gerade Alarm."
Ein Interview

Für einen Laien wie mich: Wie würden Sie Ihre Arbeit ganz allgemein beschreiben?

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Ricarda Winkelmann: Mich beschäftigt der Einfluss des Menschen auf das Erdsystem mit all seinen komplexen Wechselwirkungen. Ich bin Mathematikerin und Physikerin und interessiere mich daher vor allem dafür, wie sich die Klimaphysik verändert und zwar von den Polargebieten bis in die Tropen. Ich schaue mir also zum einen an, wie sich die Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis durch den Klimawandel verändern, aber auch, wie sich die tropischen Regenwälder verändern.

Lassen Sie uns über die Antarktis sprechen. Im Rahmen Ihrer Forschungen waren Sie bereits zweimal dort. Nehmen Sie uns doch mal mit: Wie ist es da so?

Ich kann mich an meine erste Ankunft in der Antarktis erinnern, als wäre es gestern gewesen. Das war im Sommer, das heißt, wir hatten 24 Stunden Tageslicht und ich bin nachts davon aufgewacht, dass es plötzlich in unserer Kabine dunkel wurde. Dann bin ich hoch auf die Brücke, um zu schauen, was los ist und stand vor einer Wand aus Eis. Dieser Moment hat sich bei mir richtig eingebrannt: Wie überragend groß und mächtig dieser Eisschild ist, dass man dort 100 Meter hohe Eiswände vor sich hat. Die Antarktis ist generell ein Kontinent der Superlative: Es ist der kälteste Ort der Welt, aber auch der windigste. Und, was überraschen mag: Es ist auch der trockenste Ort auf der Welt. Trotz ihrer gigantischen Eismassen ist die Antarktis eigentlich eine Eiswüste.

Und was macht man dann dort den ganzen Tag?

Also vor allem forschen. (lacht) Mein Projekt war zu der Wechselwirkung zwischen dem Meereis und dem Ozean. Das war ein Pilotprojekt, das heißt wir haben neue Geräte ausgesetzt, um zu messen, wie sich Meereisschollen über einen Jahreszyklus hinweg verändern, wie sie wachsen und dann aber auch wieder abschmelzen und was das mit den optischen Eigenschaften, also insbesondere dem Lichteinfall im Eis macht. Das muss man sich so vorstellen: Man friert diese Geräte ins Eis ein und sie driften dann mit der Meereisscholle durch das Südpolarmeer und machen dabei richtig Strecke. Aber was ich besonders spannend finde, ist, dass diese scheinbar kleinskaligen Prozesse Auswirkungen auf unser komplettes Erdsystem haben.

Welche denn?

Zum Beispiel auf die sogenannte Albedo, also die Rückstrahlkraft der Erde. Das ist der Anteil der Sonneneinstrahlung, der direkt wieder ins All zurückgeworfen wird und daher wichtig ist für die globale Mitteltemperatur. Und dafür sind diese kleinskalig anmutenden Prozesse wie etwa das Schmelzen von Eisschollen in der Antarktis extrem wichtig. Das zeigt: Das alles hat etwas mit uns zu tun, das Erdsystem ist extrem miteinander verbunden. Und auch wenn die Antarktis sehr weit weg erscheint, ist das ein Ort, der einen direkten Einfluss auf unser Leben hat.

Geht man denn in die Antarktis, um Vermutungen oder Theorien zu bestätigen oder haben Sie bei Ihren Forschungen auch Dinge herausgefunden, die Sie komplett überrascht haben?

Ich habe in meiner Forschung, gerade was die Antarktis betrifft, schon häufig überraschende Momente gehabt. Das liegt einfach daran, dass die Forschung zur Antarktis immer noch sehr jung ist. Es ist ja gerade mal etwas mehr als 100 Jahre her, dass die großen Abenteurer und Entdecker wie Shackleton und Co. erstmals Fuß auf die Antarktis gesetzt haben. Und insofern ist das noch ein sehr junges Forschungsgebiet und man darf sich häufig noch ein bisschen wie ein Pionier oder eine Pionierin fühlen.

Und Sie waren wie erwähnt bereits zweimal dort, 2011 und 2018. Hat man in diesen sieben Jahren dazwischen eine große, vielleicht auch besorgniserregende Veränderung gesehen?

Man sieht, dass sich die Polarregionen, insbesondere die Antarktis, schneller verändern als je zuvor. Und ja, in diesen sieben Jahren kam es dort zu mehreren wirklich gigantischen Kalbungen, also Abbruchereignissen. Gerade im letzten Jahr ist der größte Eisberg, der je verzeichnet wurde, von einer Schelfkante in der Antarktis abgebrochen. Außerdem wurden Temperaturrekorde verzeichnet, mit plus 18 Grad an der antarktischen Halbinsel, was nie zuvor beobachtet wurde.

Sie sind auf der "Polarstern" in die Antarktis gefahren. Im Jahr 2020 gab es eine große Doku über eben dieses Schiff und eine spektakuläre Arktisexpedition. Was denken Sie, sind solche Formate, mit denen man auch ins Populärwissenschaftliche geht, wichtig, um die Dringlichkeit des Themas mehr in die Öffentlichkeit zu tragen?

Ich glaube, dass solche Formate immens wichtig sind, um die Dringlichkeit deutlich zu machen. Denn wir sind die Ursache des Klimawandels, aber wir können auch Teil der Lösung sein. Aber auch, um den Menschen Gebiete wie die Antarktis, die so weit weg sind, wo kaum ein Mensch jemals hinkommt, näherzubringen und zu zeigen, wie wichtig sie auch für uns hier in Deutschland sind. Die Antarktis ist einfach ein faszinierender Ort und ich hoffe, dass ich und meine Kollegen und Kolleginnen durch unsere Forschung etwas von dieser Faszination weitergeben können.

Viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen fanden sich im Verlauf der Corona-Pandemie plötzlich im Visier der Medien und auch der Öffentlichkeit wieder. Was sind denn Ihre persönlichen Erfahrungen?

Ich habe damit vorwiegend positive Erfahrungen gemacht, gerade im Dialog mit Menschen aus allen möglichen Bereichen. Ich sehe es auch als meine Aufgabe als Wissenschaftlerin, neben Erkenntnissen auch die Begeisterung für die Themen weiterzugeben. Im Hinblick auf die Klimakrise, aber auch auf die immer noch andauernde Pandemie sehen wir, wie wichtig Kommunikation ist, wie wichtig der Dialog.

Stichwort Kommunikation: Warum hat es das Thema Klimawandel aus Ihrer Sicht in der Öffentlichkeit so schwer?

Was die Kommunikation beim Klimawandel schwierig macht, sind die Skalen, insbesondere die Zeitskalen. Wir sind es einfach nicht gewohnt, über so lange Zeitskalen nachzudenken, wie sie beim Klimawandel und insbesondere bei den Gletschern und den Eisschilden wichtig sind. Es ist aber umgekehrt so, dass unsere Handlungen jetzt und in den kommenden wenigen Jahren entscheidend sind für die Zukunft und für das Schicksal der Gletscher für die nächsten Jahrhunderte bis Jahrtausende. Was mir aber Mut macht, ist die junge Generation, die auch während der Pandemie ja nicht lockergelassen hat und sagt, es ist wichtig, dass wir uns weiterhin auch mit der Klimakrise beschäftigen.

Das Abschmelzen der Gletscher oder der Antarktis hat ja noch eine andere Komponente: Dadurch geht uns auch eine Menge Wissen verloren …

Ja, absolut. Gerade die Eisschilde sind eines unserer wichtigsten Klimaarchive. Sie enthalten Informationen über das Klima über Hunderte von Tausenden von Jahren. Im Eis sind kleine Einschlüsse mit Luft aus diesen Urzeiten, die wir analysieren können und dadurch verstehen, wie sich zum Beispiel die Temperatur, aber auch der Niederschlag und der CO2-Gehalt der Atmosphäre über diese Hunderttausende von Jahren über die Eiszeit hinweg verändert haben. Gleichzeitig spielen die Polarregionen noch eine zweite ganz wichtige Rolle für uns, nämlich als Frühwarnsystem. Dadurch, dass sie so besonders sensitiv auf Temperatur- und Niederschlagsveränderungen reagieren, sind die Polarregionen unser effektivstes Frühwarnsystem - und dieses Frühwarnsystem schlägt gerade Alarm.

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Zwei Begriffe fallen im Zusammenhang mit der Klimakrise und der Antarktis sehr häufig: Kippelement und Kipppunkt. Können Sie erklären, was es damit auf sich hat?

Kippelemente sind großskalige Teile des Erdsystems. Wenn die einmal nah an einem kritischen Punkt sind, reicht eine kleine Änderung – etwa in der Temperatur – aus, um drastische Folgen zu haben. Das heißt: Bei einer kleinen Ursache kommt es zu einer großen Wirkung. Von diesen Kippelementen gibt es im Klimasystem einige, von den Eisschilden auf Grönland und der Antarktis über das Golfstromsystem bis hin zum Amazonas-Regenwald. Die Mechanismen, die diese Elemente jeweils zum Kippelement machen, sind mittlerweile sehr gut verstanden. Ich will das mal am Beispiel des Grönländischen Eisschildes erklären.

Sehr gerne.

Diesen Mechanismus kennen wir auch vom Bergsteigen. Wenn man vom Gipfel eines Berges ins Tal herabsteigt, dann wird es wärmer. Und genauso ist das auch mit der Eisoberfläche Grönlands. Wenn die sich zum Beispiel wegen verstärkten Schmelzens an der Oberfläche weiter absenkt und in niedrigere Lagen gerät, wird es an der Oberfläche wärmer und dadurch kommt es zu weiterem Schmelzen. Dadurch sinkt die Oberfläche weiter ab, es wird wieder wärmer und so weiter und so fort. Das ist ein sich selbst verstärkender Effekt und das macht Grönland zum Kippelement.

Und was ist dann ein Kipppunkt?

Das ist der kritische Punkt bei dem jeweiligen Kippelement, also beispielsweise eine kritische Erwärmung, ab der bestimmte Prozesse nicht mehr aufzuhalten sind, wie das Abschmelzen von großen Teilen Grönlands.

Und das ist dann nicht mehr umkehrbar?

Ja, zumindest auf menschlichen Zeitskalen sind diese Prozesse dann weitestgehend irreversibel.

Die Antarktis ist auch ein solches Kippelement. Was genau passiert dort?

Dort wirkt gerade ein anderer Mechanismus, der die Antarktis zum Kippelement macht: In der Antarktis ist es deutlich kälter als in Grönland und deswegen kommt es dort weniger zum Oberflächenschmelzen. In der Antarktis ist es eher die Wechselwirkung zwischen Eis und Ozean: Durch die Erwärmung des Ozeans oder das Einströmen wärmerer Wassermassen kommt es zu verstärktem Schmelzen an der Unterseite des Eises.

Was hat das für Auswirkungen?

In der Antarktis ist es so, dass wir einen gigantischen Eisschild haben, der auf Land aufliegt. Wenn von der Antarktis mehr Eis abschmilzt und in den Ozean fließt, dann kommt es zu einem Anstieg des Meeresspiegels. Wir sprechen hier von sogenanntem Meeresspiegelpotenzial. Wenn die Antarktis komplett abschmelzen würde, dann würde weltweit der Meeresspiegel um mehr als 58 Meter ansteigen. Genauso ist es beim grönländischen Eisschild. Der hat ein Meeresspiegelpotenzial von sieben Metern.

Zur Person: Ricarda Winkelmann ist Professorin für Klimasystemanalyse am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und an der Universität Potsdam. Sie studierte Mathematik und Physik in Göttingen und Kalifornien, promovierte in Physik und leitet inzwischen mehrere große Projekte zur Erforschung von Klimadynamiken, unter anderem zur Antarktis, zum Meeresspiegelanstieg und zu den sogenannten Kippelementen im Erdsystem. Für ihre Forschung erhielt sie zahlreiche Preise und wurde unter anderem zur Nachwuchswissenschaftlerin des Jahres 2018 gekürt.

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