Der Lockdown hat der Wirtschaft viel an Umsätzen gekostet. Die Bundesregierung will nun unter anderem mit einer Mehrwertsteuersenkung Kaufanreize setzen. Doch was bringt das überhaupt - und wem?

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Die Mehrwertsteuersenkung ist Teil des Konjunkturpakets, das die große Koalition am Donnerstag (4. Juni) vorgestellt hat. Demnach wird ab 1. Juli für ein halbes Jahr der reguläre Mehrwertsteuersatz von 19 auf 16 Prozent und der ermäßigte Satz, der vor allem für Lebensmittel gilt, von 7 auf 5 Prozent gesenkt. Die Regierung hofft, damit den Konsum anregen zu können.

Die Menschen sollen also mehr kaufen. Doch das wird wahrscheinlich nur passieren, wenn mit der Senkung der Mehrwertsteuer auch die Preise sinken. Garantiert ist das nicht, denn die Hersteller, Händler und Dienstleister können nicht dazu gezwungen werden.

Werden die Senkungen an den Kunden eins zu eins weitergegeben?

Theoretisch könnten sie sich also die Beträge, die sie durch die niedrigere Mehrwertsteuer sparen, in die eigene Tasche stecken. Dass sie das tun werden, glaubt Isabel Klocke, Leiterin der Abteilung Steuerrecht und Steuerpolitik beim Bund der Steuerzahler Deutschland, jedoch nicht. Zumindest nicht mehrheitlich.

"Fast jeder Kunde weiß um die Mehrwertsteuersenkung und hat die Möglichkeit, bei seinem Händler dementsprechend nachzufragen und Druck zu machen", erklärt die Steuerpolitikexpertin im Gespräch mit unserer Redaktion. Wenn ein Kunde glaubt, ein Produkt sei zu teuer, gehe er eben zu einem anderen Händler.

Gerade jüngst hat es einige Mehrwertsteuersenkungen gegeben: bei Hygieneartikeln, E-Books und im Fernverkehr der Deutschen Bahn. Diese Senkungen hätten vielfach auch Senkungen der Produktpreise nach sich gezogen, sagt Klocke.

"Mitnahmeeffekt": Streicht der Handel die Vergünstigung selbst ein?

Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass einige Hersteller, Händler und Dienstleister versuchen, die Vergünstigung selbst einzustreichen. "Mitnahmeeffekt" heißt das unter Fachleuten. Der Ökonom Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht durchaus die Gefahr, dass es dazu kommt.

Er verweist auf eine DIW-Studie, wonach es längerfristige Steuersenkungen bräuchte, damit sich in den meisten Branchen ein Wettbewerbsdruck aufbaut, der zu Preissenkungen führt. Bach glaubt, ein Teil der Entlastung werde an die Verbraucher weitergegeben. Der andere Teil werde den "notleidenden Handel" stärken, wie er dem

WDR sagte.

Steuersenkungen werden nur selten an Verbraucher weitergegeben

Der Steuerrechtsexperte Joachim Englisch sieht das ähnlich. Er gehe davon aus, dass nur ein kleiner Teil der Entlastung beim Verbraucher ankommen werde, so der Direktor des Instituts für Steuerrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster zu unserer Redaktion.

Zahlreiche Studien zeigten, dass Senkungen ermäßigter Mehrwertsteuersätze selbst unter normalen Umständen, also wenn sie langfristig angelegt sind und rechtzeitig kommuniziert wurden, nur zu einem eher geringen Teil weitergegeben werden. Zudem legten Erfahrungen aus Großbritannien nach der Finanzkrise nahe, dass auch bei einer Senkung des allgemeinen Satzes, also "unseren" 19 Prozent, Preissenkungen nach einiger Zeit wieder zurückgenommen werden. Das gilt vor allem, wenn die Steuersatzsenkung nur vorübergehend ist.

"Meine Vermutung ist deshalb, dass wir bei den Preisen für ermäßigte Produkte und Dienstleistungen, also etwa bei Lebensmitteln, Büchern und Hotels kaum Bewegung sehen werden, und bei den regulär besteuerten Produkten und Dienstleistungen eine verzögerte Senkung, die zudem womöglich schon vor Ablauf der sechs Monate teilweise wieder zurückgenommen wird", sagt Englisch, der auch Mitglied der VAT Expert Group der EU-Kommission ist, also einer Expertengruppe für die Mehrwertsteuer.

Bund der Steuerzahler: Sechs Monate sind zu kurz

Impulse für die Binnennachfrage dürfte es nach seiner Einschätzung am ehesten dort geben, wo die Verbraucher teure Anschaffungen machen oder vorziehen, zum Beispiel neue Autos, größere Haushaltsgeräte oder Elektronik kaufen. "Ansonsten dürfte die Mehrwertsteuersenkung faktisch eher die Gewinnmargen der Unternehmen erhöhen.

Das mag zum Teil sogar durchaus erwünscht sein, zum Beispiel in der Gastronomie, in weiten Teilen des Einzelhandels oder im Tourismusgewerbe." Das mache die Maßnahme aber auch nicht besonders zielgenau, es profitierten auch Unternehmen und Branchen, die es nicht nötig hätten.

"Profitieren wird in jedem Fall jemand - entweder die Verbraucher oder der Handel", sagt Isabel Klocke. Allerdings findet auch der Bund der Steuerzahler, dass die Dauer von sechs Monaten zu kurz bemessen ist.

"Viele Unternehmen müssen ihre Kassen und Rechnungsprogramme auf die neuen Sätze umstellen und zum Teil die Waren neu auspreisen. Das ist ein nicht unerheblicher Aufwand für eine relativ kurze Zeit."

Werden die Senkungen tatsächlich zu einem Wirtschaftsaufschwung führen?

Ob die Mehrwertsteuersenkung den Konsum tatsächlich anregt, wird abgewartet werden müssen. "Es gibt sicher einen psychologischen Effekt, der einen Kaufanreiz auslöst", sagt Isabel Klocke. Letztlich wisse aber niemand, wie die Kunden reagierten.

Kaufen die Menschen nicht mehr ein, haben auch die Händler nichts von der Senkung, weil die sich nur über Verkäufe bemerkbar macht. Wird nichts verkauft, sparen die Händler nichts - ganz egal, ob sie nun die Preise gesenkt haben oder nicht.

Bei größeren Anschaffungen wie Autos kann es zudem sein, dass ihr Kauf eben vorgezogen wird, also dass die Hersteller und Verkäufer im Jahr darauf dann eben weniger einnehmen.

"Man setzt hier darauf, einen positiven Verstärkungseffekt in Gang zu setzen, der dann nach sechs Monaten stark genug ist, um den Aufschwung auch nach Rücknahme der Steuersenkung wieder selbst zu tragen", sagt Joachim Englisch.

Mehr Konsum schaffe und sichere Arbeitsplätze und Wachstum, was Verbrauchervertrauen erhöhe und damit die Nachfrage, die dann wieder in mehr Konsum münde. "Dafür wird es natürlich nötig sein, die Senkung nur schrittweise und zum richtigen Zeitpunkt, also nicht zwingend vollumfänglich nach sechs Monaten, zurückzunehmen."

Was aber geht dem Staat durch die Mehrwertsteuersenkung an Einnahmen verloren? Im Beschlusspapier der großen Koalition ist laut Isabel Klocke von einem Finanzbedarf von 20 Milliarden Euro die Rede. Mit diesem Verlust rechnet die Bundesregierung also. Wie viel es letztlich wird, hängt aber vom Kaufverhalten der Bürger ab.

Vor 1. Juli gekauft - nach 1. Juli geliefert

Und was ist, wenn jemand schon etwas (zum alten Satz) gekauft hat, das aber erst nach dem 1. Juli geliefert wird? Diese Frage gehört zu den noch ungeklärten. Es gibt bislang nur den Koalitionsbeschluss, eine Gesetzesvorlage, in der die Details geregelt werden, kommt erst noch. "Wir hoffen, dass das Bundesfinanzministerium sie in den kommenden Tagen vorlegt", sagt Klocke.

Die Steuerrechtsexpertin geht davon aus, dass der Zeitpunkt der Leistungserbringung entscheidend sein wird. Also zum Beispiel, wann das vorher bestellte Auto geliefert wurde oder wann die Handwerker das Bad renoviert haben.

Wann die Rechnung erstellt oder der Auftrag erteilt wurde, wäre dann unerheblich. Wie das bei Dauerverträgen wie Abos oder bei Anzahlungen aussähe, muss ebenfalls noch geklärt werden.

Verwendete Quellen:

  • Telefoninterview mit der Leiterin der Abteilung Steuerrecht und Steuerpolitik beim Bund der Steuerzahler e.V., Isabel Klocke
  • Schriftliche Antworten von Professor Joachim Englisch, Direktor des Instituts für Steuerrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster
  • Website der Bundesregierung: Konjunkturpaket: "Ein ambitioniertes Programm"
  • WDR.de: Wem die Senkung der Mehrwertsteuer helfen könnte
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