Nach den schweren Stürzen im "Phoenix Snow Park" flammt die Debatte um den ewigen Gigantismus der Olympischen Spiele wieder auf. Athleten und Funktionäre sind verärgert, das IOC aber lässt das kalt.

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Unter den vielen erzürnten Botschaften formulierte Aimee Fuller die prägnanteste. "Das hier ist eine Schande für unseren Slopestyle-Sport", sagte die Britin und so manch anderer wird sich dabei gedacht haben, dass selbst diese harschen Worte noch zu milde gewählt waren.

Der "Phoenix Snow Park" sollte die Stätte für die besonders spektakulären Momente bei Olympia werden, der Ort der Knalleffekte und gigantischen Bilder. Ein Spektakel für die Fans an der Strecke und zu Hause auf der Couch.

Für die Hasardeure auf der Piste ist das die ultimative Herausforderung. Ob beim Snowboard-Slopestyle oder dem noch wilderen Skicross.

Herausgekommen ist ein Festival an teilweise üblen und lebensgefährlichen Stürzen, ein Potpourri an Verletzungen, zahlreichen Hubschrauber- und Rettungsschlitteneinsätzen.

Der Österreicher Markus Schairer brach sich beim Snowboardcross einen Halswirbel, der Japaner Yuto Totsuka wurde mit einer Beckenverletzung ins Krankenhaus eingeliefert, die Deutsche Silvia Mittermüller nach einem bösen Trainings-Sturz längst am Meniskus operiert.

Lebensgefahr beim Skicross

Wenige Tage später folgten regelrechte Horrorstürze beim Skicross, der wohl gefährlichsten aller olympischen Winterdisziplinen. Der Kanadier Christopher Del Bosco, Weltmeister von 2011 und damit wahrlich kein Anfänger, wurde nach einem Sprung über 40 Meter ausgehebelt, segelte in sieben Metern Höhe querliegend durch die Luft und zerschmetterte beim Aufprall sein Becken.

Dem Franzosen Terence Tchiknavorian brach im ersten K.o.-Lauf des Tages zuvor schon das Schienbein, Christopher Wahrstötter aus Österreich erlitt nach einem Crash eine Gehirnerschütterung.

Der Gedanke von sicheren Wettbewerben für alle Athleten ist im "Phoenix Snow Park" aus dem Fokus geraten. Die Veranstalter spielen mit der Gesundheit der Athleten und das IOC schaut dabei einigermaßen tatenlos zu.

Es gehört zur Folklore der Spiele, dass die Veranstaltungen stets einer gewissen Reform unterzogen werden. Damit will man zum einen die Wettkämpfe spannend, ausgeglichen und wenn möglich auch fairer gestalten, zum anderen soll das Fernsehen aber auch spektakuläre Bilder in die Welt versenden.

Dass die Athleten dabei oftmals lediglich die Rolle der Statisten übernehmen, die im Sinne des Spektakels funktionieren sollen, stößt gerade nach den Ereignissen der letzten Tage einigen sauer auf.

"Ich habe ein Problem damit, mit jedem Sprung mein Genick zu riskieren", sagt Snowboarder Konstantin Schad. "Das ist nicht mein Verständnis von Boardercross." Sein Kollege Paul Berg pflichtet dem bei: "Es ist für die Leute extrem spektakulär - für uns Sportler ist es manchmal nicht so glücklich."

Bedenken wurden bestätigt

Noch deutlicher wurde Sportdirektor Stefan Knirsch. "Es bringt nichts, alle vier Jahre ein Monster zu schaffen, das keiner mehr in der Lage ist, zu fahren! Die Bilder wären auch anders toll geworden. Da muss man hindenken - ohne immer bigger, bigger, bigger zu denken."

Knirsch prangert klar den übertriebenen Wahn nach immer noch wilderen Fahrten seiner Läufer an. "Wir wollen guten Sport nach außen tragen. Und wenn das draußen nicht so ankommt, weil es nach Roulette aussieht, ist das schlecht für uns. Wir müssen gucken, dass es einen Weltcup plus 20 Prozent braucht und nicht einen Weltcup plus 80 Prozent."

Im "Phoenix Snow Park" rasten die Männer mit bis zu 80 Kilometern pro Stunde die Piste runter. Ob die Geschwindigkeit um 10 km/h geringer sei, merke der Zuschauer nicht, sei aber entscheidend für die Sicherheit, mahnte Knirsch an.

Dass die Organisatoren im Frauenrennen dann den Mittelteil der Strecke entschärften, war letztlich nur ein schwacher Trost und ein kleines Zugeständnis, das nur wenige Tage später - trotz rechtzeitig formulierter Bedenken - wieder vergessen wurde.

Der deutsche Skicross-Sportdirektor Heli Herdt warnte noch am Montag vor dem Kurs. "Mir ist es ein bisschen viel. Es ist definitiv nicht das, was ich mir unter Skicross vorstelle", sagte Herdt mit Blick auf das enorme Risiko. "Wenn Rückenwind ist, wird es vor allem für die Jungs eher Skispringen. Wenn die alle im Rennmodus fahren, dann wird es wie in Sotschi, und das ist nicht der Sinn der Sache." Bei den Winterspielen 2014 hatte es mehrere schwere Stürze gegeben.

Und als dann Del Bosco tatsächlich abhob wie ein Skispringer und auf die eisige Piste knallte, wurden Herdts Befürchtungen bestätigt. "Dieser Gigantismus kann nicht das Mittel der Wahl sein", sagte Herdt nach Del Boscos Sturz, "die Leute sind nur in der Luft. Du kommst sofort in die Gefahrenzone. Der Kurs ist viel zu schnell."

Der Gigantismus des IOC

"Gigantismus" ist aus IOC-Sicht ein unschöner Begriff, er umschreibt die Verhältnisse aber auf besonders treffende Art und Weise. Dabei geht es auch um die Wahl der Veranstaltungsorte, zuletzt Sotschi, nun Pyeongchang: Keine klassischen Wintersportorte, sondern aus dem Boden gestampfte Wettkampfarenen, Milliarden Euro teuer und ohne Nachhaltigkeit.

"Wenn die Spiele vergeben werden, geht es nicht immer darum, ob dort tolle und faire Wettkämpfe ausgetragen werden können", sagt Deutschlands Biathlon-Olympiasieger Arnd Peiffer. Man habe sich "sehr vom eigentlichen Olympia-Kern entfernt. Der Mythos Olympia hat bei der Bevölkerung sehr viel eingebüßt."

Das ist ein Kernproblem des skandalumwitterten IOC. Die Reputation der Spiele hat in den letzten Jahren sehr gelitten, weil die Funktionäre sich die Taschen vollgestopft haben mit Geld. "Weiter, höher, schneller, besser" ist das Motto, um zumindest den Sport spektakulär und glanzvoll zu halten.

Selbst die Halfpipe der Snowboarder und Skifahrer wurde auf sieben Meter erhöht, um Sprünge jenseits der Fünf-Meter-Marke zu erzielen. Der Luftstand der Athleten erreicht demnach nicht selten zwölf Meter und mehr.

An vielen traditionellen Sportarten wie der Nordischen Kombination oder dem Eiskunstlauf kann das IOC die Schraube kaum noch weiterdrehen. Aber gerade bei den jungen, hippen Events wie beim Snowboard- oder Skicross, wenn die Konzeption der Pisten an externe Dienstleister vergeben wird, die sich dann - um Folgeaufträge zu bekommen - mit spektakulären und gefährlichen Streckenführungen immer noch weiter übertreffen, ist das eine Gefahr für Leib und Leben. Und auf Dauer absolut kontraproduktiv.

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