Während Ding Liren und Jan Nepomnjaschtschi um den Titel des Schachweltmeisters kämpfen, vertreibt sich Magnus Carlsen die Zeit bei einem Pokerturnier. Wie funktioniert die WM ohne den besten Spieler der Welt?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Julian Münz sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Nicht mit Schachfiguren, sondern mit Spielkarten sorgte Magnus Carlsen nach dem Beginn der Schachweltmeisterschaft für Aufmerksamkeit. Während sich Jan Nepomnjaschtschi, der aktuell zweitbeste Schachspieler der Welt, mit der Nummer drei der Welt, Ding Liren, im kasachischen Astana um seine Nachfolge duellierten, spielte der amtierende Weltmeister zusammen mit einigen Influencern bei einem Pokerturnier. Auch als Statement, wie wenig ihn das wichtigste Turnier seines Sports, das er freiwillig abgesagt hatte, interessierte?

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Trotz Carlsens WM-Absage ist sich die Schachwelt weiterhin einig, dass der 32-Jährige noch immer der beste Schachspieler der Welt ist. In der Weltrangliste thront er schließlich klar vor Nepomnjaschtschi und Ding auf dem ersten Platz. Carlsen, sagen Experten, mache in den klassischen Schachpartien, in denen es mehrere Stunden Bedenkzeit für die Züge gibt, kaum noch gravierende Fehler.

Carlsen spielte gut, aber langweilig

Doch das gute Spiel des Norwegers sorgte jahrelang auch für Langeweile auf dem Brett. Gerade weil es sich Carlsen in seinen WM-Partien immer leisten konnte, Spiele nicht gewinnen zu müssen. Besonders deutlich wurde dies bei der Schachweltmeisterschaft 2018: Gegen seinen damaligen Herausforderer, den Amerikaner Fabiano Caruana, ging Carlsen in zwölf Partien zwölf Mal ins Remis. Da Caruana im Schnellschach, das bei Gleichstand über den Sieger entscheiden sollte, der deutlich schlechtere Spieler war, reichte das für Carlsen am Ende aus.

Auch drei Jahre später gegen Nepomnjaschtschi spielte der Norweger zunächst fünf sichere Remispartien, bevor er im sechsten Spiel die bislang längste Partie der WM-Geschichte für sich entscheiden konnte. Erst danach, als Nepomnjaschtschi mit steigendem Druck immer mehr den Fokus verlor, gewann Carlsen noch drei weitere Partien.

Am Ende waren die WM-Kämpfe wohl auch zu langweilig für den Weltmeister selbst. "Mir fehlt für einen weiteren Titelkampf die Motivation", erklärte Carlsen im Sommer 2022, warum er bei der Weltmeisterschaft nicht noch einmal antreten würde. Schon zuvor hatte er angekündigt, diesen nur noch gegen das erst 19-jährige aufstrebende Schachtalent Alireza Firouzja verteidigen zu wollen.

Carlsen, hieß es, wolle sich stattdessen mehr auf Schnell- und Blitzschachturniere konzentrieren. Ein Weltmeister, der seine Karriere nicht beendet, aber einfach keine Lust mehr hat, den wichtigsten Titel seines Sports zu verteidigen - das hat es auch im Spiel der Könige zuvor noch nicht gegeben. Und wie sollte eine Weltmeisterschaft für Spannung sorgen, wenn der beste Spieler der Welt nicht daran teilnimmt, dazu auch noch freiwillig? Nicht umsonst kritisierte Ex-Weltmeister Garri Kasparov das Turnier laut SID als "amputiertes Event".

Auch ohne Carlsen ist die WM spannend

Nachdem die Hälfte der Partien gespielt sind, kann man sagen: Auch ohne den Titelverteidiger funktioniert das Event erstaunlich gut. Wo nach den letzten Weltmeisterschaften Stimmen aufkamen, dass die Schach-WM vor lauter Unentschieden langfristig den "Remistod" sterben würde, sprechen fünf aus sieben Spielen, die einen Gewinner hatten, jetzt eine andere Sprache.

Klar, Carlsen hätte die Partien, die bei dieser WM aufs Brett kamen, womöglich an manchen Stellen besser gespielt als die jetzigen Titelkandidaten, vielleicht aus manchen Partien noch mehr herausgeholt. Statt einem nahezu perfekten Spiel bietet die aktuelle Schach-WM dafür aber wieder die Dramatik, die sie bei den letzten Turnieren manchmal vermissen ließ.

Dafür sorgen auch die Spieler selbst - besonders Ding Liren, der bereits in der ersten Turnierhälfte eine beeindruckende Entwicklung durchgemacht hat. Ding ist in der Schachwelt sowieso schon ein Phänomen: Lange galt der talentierte Chinese als aussichtsreichster Kandidat, um Carlsen eines Tages vom Schachthron zu stoßen.

Aber er verwunderte die Experten auch, wenn er zu wichtigen Turnieren wie dem prestigeträchtigen "Tata Steel Chess" Anfang des Jahres ganz alleine anreiste - anders als seine Mitstreiter, die bei wichtigen Turnieren selbstverständlich ein Team um sich herumscharen, das sie bei der zeitintensiven Vorbereitung auf die Gegner unterstützt. Ding aber hatte nicht einmal Freunde oder Familie vor Ort.

Ding fühlte sich zum WM-Start unwohl

Auch zum Start der WM sah es so aus, als würde ihm seine Eigenheit auch die WM kosten. Denn in Astana fühlte sich Ding zunächst sichtlich unwohl, wohl auch wegen der starken Präsenz des Teams um seinen Gegner. Kurz vor Beginn des Turniers wechselte er noch kurzfristig sein Hotel, in dem auch die WM-Partien stattfinden.

Dementsprechend schwierig verlief für Ding auch der Start in das Turnier: "In der ersten Hälfte der Partie konnte ich mich nicht konzentrieren", klagte er nach dem ersten Spiel, das noch Remis endete. Und in Partie zwei musste er bereits nach 29 Zügen aufgeben.

Doch spätestens ab Partie drei schien der 30-Jährige plötzlich im Turnier angekommen zu sein. Mit nun deutlich selbstbewussterem Auftreten brachte er "Nepo" mehrere Male mit ungewöhnlichen Eröffnungsvarianten aus dem Konzept - vermutlich nach Ideen seines mitgereisten Sekundanten Richard Rapport, der für besonders kreative Spielideen bekannt ist.

Auch Nepomnjaschtschi spielt besser als vor zwei Jahren

Doch auch wenn Ding mit zwei Siegen zurück ins Spiel gekommen ist, entschieden ist diese Weltmeisterschaft damit noch lange nicht. Denn der bereits mit WM-Erfahrung ausgestattete Nepomnjaschtschi hat noch immer das eingespieltere Team hinter sich und agiert auf dem Schachbrett mittlerweile konsequenter als im WM-Duell gegen Carlsen vor zwei Jahren.

Wenn der Russe, der wegen des Krieges in der Ukraine unter neutraler Flagge spielt, Chancen auf den Sieg hatte, brachte er diesen bislang immer über die Ziellinie - auch im siebten Spiel, mit dem "Nepo" in der Gesamtwertung erneut in Führung ging. Beide Großmeister haben in der ersten Hälfte des Turniers klargemacht, dass es ihnen nicht reicht, auf Remis zu spielen.

Und dass Carlsen anstatt der Schach-WM lieber Poker spielt, ist ob des spannenden Turnierverlaufs mittlerweile eher eine Randnotiz. "Es ist mir wirklich egal", antwortete Nepomnjaschtschi bei der Pressekonferenz nach Spiel fünf auf die Frage eines Journalisten, ob er glaube, dass Carlsen die aktuellen WM-Partien genauer verfolge. Wer dachte, die klassische Schach-WM würde durch Carlsens Rückzug an Bedeutung verlieren, könnte sich geirrt haben.

Verwendete Quellen:

  • SID
  • sportschau.de: Weltmeister Carlsen will nur gegen einen spielen
  • zeit.de: Schluss mit Remis
  • zeit.de: Ding: "Ich mag es nicht, zu berühmt zu sein"
  • welt.de: Nepomniachtchi siegt dominant, Ding spricht von „Katastrophe“
  • chess.com: Ding Liren gewinnt die vierte Partie und gleicht zum 2:2 aus
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