• "Iss weniger Fleisch!" und "Flieg nicht mehr mit dem Flugzeug!" – geht es um den Klimaschutz, richten sich viele Appelle an den individuellen Verbraucher.
  • Dabei sind die Privathaushalte nicht die größten CO2-Emittenten – ganz vorne mit dabei sind vor allem Energiekonzerne, Industrieunternehmen und die Landwirtschaft. In der öffentlichen Debatte stehen die nicht immer im Fokus.
  • Warum? Muss die Politik erst handeln, damit ich selbst etwas tun kann? Soziologin und Klimaforscherin Anita Engels gibt Antworten zum Verhältnis zwischen individueller und politischer Verantwortung.
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Sie entstehen vor allem beim Verbrennen fossiler Energieträger und sind als "Klimakiller" in aller Munde: Treibhausgase. Das bedeutsamste von Menschen verursachte Treibhausgas ist Kohlenstoffdioxid (CO2). Es zu reduzieren oder wo möglich zu vermeiden ist das Ziel aller Klimaschutzmaßnahmen. Damit soll die Erderwärmung bis 2100 auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden. Das Ziel also – es ist klar definiert.

Schwieriger wird’s bei der Verantwortung. Wer kümmert sich darum, dass weniger CO2 ausgestoßen wird? Wenn es nach den lautesten Rufen in der politischen Kommunikation geht, liegt der Ball vor allem im Feld der Verbraucher. Sie sollen weniger Fleisch essen, aufs Fliegen verzichten, das Auto häufiger stehen lassen und Konsum reduzieren.

Privathaushalte: Nicht die größten CO2-Sünder

"Ohne deutliche Umstellungen der individuellen Verhaltensweisen wird die große nötige Transformation nicht gelingen", sagt Soziologin und Klimaforscherin Anita Engels von der Universität Hamburg im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Wissenschaftlerin betont aber auch: "Die größten CO2-Emittenten sind nicht die privaten Haushalte."

Das Umweltbundesamt nennt als die größte Emissionsquellen für Treibhausgase den Energiesektor. Es folgen Verkehr, Industrie, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft. "Vielleicht kann stellenweise der Eindruck entstehen, dass die großen Emittenten in der politischen Kommunikation unter dem Radar fliegen, aber der Druck wächst seit Jahren", ist sich Engels sicher.

Verantwortung mit Appellen abgeben

Besonders unter öffentlicher Beobachtung stünden Energiekonzerne und die Automobilindustrie. "Für Ministerien, die etwas umsetzen müssen, ist es trotzdem einfacher, die Verantwortung an die einzelnen Verbraucher als Appell abzugeben, anstatt sich in schwierige Aushandlungsprozesse mit mächtigen Konzernen zu begeben", betont Engels. Oft würden deshalb die strukturellen Veränderungen, die nötig seien, um die Individuen handlungsfähiger zu machen, in der Kommunikation ausgeblendet.

Weiterer Grund: Die Appelle an die Verbraucher sind meist schneller umsetzbar. "Man kann schneller auf Fleisch verzichten, als ein völlig neues Geschäftsfeld aufzubauen", sagt Engels. Der Schritt weg vom Verbrennungsmotor und fossilen Energieträgern sei noch immer nicht richtig in Angriff genommen worden. "Wenn man schrittweise für eine Reduzierung von CO2 sorgen kann, ist das einfacher, als eine komplette Umstellung zu bewerkstelligen", erklärt sie.

Lobbykräfte am Werk

Hinzukommt: Die Lobbymacht ist groß. "Das hat man zuletzt an den schwierigen Verhandlungen über den Kohleausstieg gesehen", erinnert Engels. Es werde noch viele Jahre dauern, bis der Ausstieg abgeschlossen sei, verbunden mit hohen Kompensationszahlungen.

Expertin Engels ist sich sicher: "Es ergibt keinen Sinn, Politik und Individuen hinsichtlich ihrer Verantwortung gegeneinander auszuspielen." Es handele sich um ein Wechselspiel: "Die Verbraucherinnen und Verbraucher geben mit ihrem Handeln politische und Marktsignale, aber die Politik muss koordinieren und für die richtigen Rahmenbedingungen sorgen." Jede Regierung sei in der Verantwortung, solche Veränderungen einzuleiten.

739 Millionen Tonnen Treibhausgase

Es ist bereits weniger als in den Vorjahren, aber in Deutschland wurden im Jahr 2020 trotzdem noch immer rund 739 Millionen Tonnen Treibhausgase freigesetzt. Hauptverantwortlich bleibt der Energiesektor mit 221 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten.

Der Fahrplan im Energiesektor in Sachen Klimaschutz lautet deshalb: Raus aus den fossilen Brennstoffen wie Erdöl und Kohle und umsatteln auf erneuerbare Energien. Mit dem "Gesetz zur Reduzierung und zur Beendigung der Kohlestromversorgung" wurde der Ausstieg bis spätestens Ende 2038 beschlossen.

Verantwortung im Energiesektor

Beraten wurde die Bundesregierung durch die Kohlekommission mit Matthias Platzeck (SPD), Ronald Poffalla (CDU), Stanislaw Tillich (CDU) und Barbara Praetorius an der Spitze. Tillich, ehemaliger sächsischer Ministerpräsident, sitzt inzwischen im Aufsichtsrat des mitteldeutschen Kohleförderers "Mibrag". Umweltverbände hatten einen deutlich früheren Kohleausstieg gefordert. So setzte sich "Fridays for Future" beispielsweise für ein Ende der Kohleförderung im Jahr 2030 ein.

Engels sagt: "Die technologischen Optionen sind vorhanden, aber die Politik muss die Energiewende so hinbekommen, dass es eine Versorgungssicherheit gibt." Dafür müsse noch viel Infrastruktur aufgebaut werden, auch die Strommärkte müssten umgestaltet werden. "Es ist also viel zu tun, worauf die Einzelnen keinen Zugriff haben", analysiert sie.

Industrie als Klimasünder

Möglichkeiten, sich im Energiesektor für das Klima einzusetzen, gebe es dennoch: "Man kann seinen Stromtarif innerhalb weniger Minuten auf klimafreundlichen Strom umstellen", sagt die Expertin. Man könne sich auch in Energiegenossenschaften zusammenschließen. Geschehe das in der Breite, sei es ein starkes Signal. "Die Politik muss die Rahmenbedingungen aber massiv vereinfachen. Das gilt auch für den Heizbereich: Hier braucht es außerdem staatliche Förderungen, wenn man sein Heizsystem umstellen möchte", meint Engels.

Mit 178 Millionen Tonnen ist die Industrie der zweitgrößte Klimasünder in Sachen Treibhausgasemissionen. Das Emissionshandelsystem soll über einen CO2-Preis Druck auf die Unternehmen ausüben und Anreiz geben, auf klimafreundlichere Alternativen umzustellen.

Forderung nach höherem CO2-Preis

Der CO2-Preis liegt derzeit bei mehr als 50 Euro, die Grünen fordern, den CO2-Preis im Jahr 2030 auf 60 Euro zu erhöhen. "Fridays for Future" reicht das nicht: Sie fordern eine CO2-Steuer auf alle Treibhausgasemissionen. "Der Preis für den Ausstoß von Treibhausgasen muss schnell so hoch werden wie die Kosten, die dadurch uns und zukünftigen Generationen entstehen", heißt es auf der Website. Laut Umweltbundesamt (UBA) sind das 180 Euro pro Tonne.

"Die Politik ist im Industriebereich besonders gefragt, Individuen sind hier weitestgehend die Hände gebunden", sagt Engels. Man könne aber Einfluss über private Geldanlangen nehmen. "Man kann darauf achten, ob die Aktien, die man in seinem Portfolio hat, oder die Bank, bei der man ein Konto hat, auf Nachhaltigkeit setzen", erklärt sie, erinnert aber auch daran: "Die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, die international operieren, hängt von den Bedingungen vor Ort ab." Manche Prozesse seien schwer umzustellen, etwa in der Zementherstellung.

Signale im Verkehrssektor

Probleme gibt es auch bei der Verantwortung im Verkehrssektor, er schlug 2020 mit 146 Millionen Tonnen zu Buche. "Hier herrscht ein Konflikt um den Platz auf der Straße", sagt Engels.

Es gebe viele Menschen, die gerne mehr Rad fahren würden, dies aber unter den jetzigen Bedingungen nicht umsetzen könnten. "Hier ist oft die Kommunalpolitik gefragt", weiß die Expertin. Eine Hebelwirkung könnten Individuen nur mit größeren Zusammenschlüssen und Petitionen erzielen.

Potenzial im Gebäudesektor

Nach der Industrie folgt mit 120 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten bereits der Gebäudesektor. Als einziger Bereich verzeichnet er ein Plus im Vergleich zum Vorjahr.

Für Privathaushalte sieht Engels aber großes Potenzial in der energetischen Sanierung. "Dort könnte für größere CO2-Einsparungen gesorgt werden, aber das ist gleichzeitig ein Bereich, der für die Einzelnen sehr aufwändig und mühsam ist", gibt sie zu.

Da viele Hauseigentümer bereits älter seien, sei es für sie schwieriger, einen Kredit für den nötigen Umbau zu erhalten und die persönlichen Hürden seien hoch. "Hier wird es besonders deutlich, dass es nur im Zusammenspiel von Politik und Privathaushalten gehen kann", findet Engels. Die Politik sei beispielsweise mit Förderprogrammen gefragt.

Lobby in der Landwirtschaft

Weiterer Treibhausgas-Emittent: Die Landwirtschaft. "Hier sind starke Lobbykräfte am Werk und die deutsche Landwirtschaft hängt stark von der Europäischen Union ab", erklärt Engels.

Bei Agrarsubventionen versucht besonders der Deutsche Bauernverband Einfluss zu nehmen.

"Der Beitrag der Bevölkerung wäre eigentlich, vegan zu leben, das ist aber für viele nicht attraktiv. Den Konsum von Fleisch und Milchprodukten deutlich zu reduzieren, ist aber ein Signal", meint die Expertin. Es gebe immer mehr Veganer und Vegetarier, aber viele andere würden den Appell nach weniger tierischen Produkten als Frontalangriff auf die eigene Lebensweise wahrnehmen.

Handeln im Abfallbereich

"Man kann hier nur auf sehr langfristigen kulturellen Wandel hoffen. Würde man etwa mit Fleischverboten hereingrätschen, hätte man große Teile der Bevölkerung gegen sich", sagt Engels.

Handlungspotential für Individuen sieht sie vor allem im Abfallbereich: "Hier könnten die privaten Haushalte mehr tun, denn der Anteil des Biomülls ist noch zu gering." Wenn man organische Küchenabfälle in den Restmüll schmeiße, gehe Rohstoff für Biogas verloren. "Die Politik schöpft das Potential aber auch nicht aus: Sie könnte stärker zum Recycling verpflichten", sagt Engels.

CO2-Abdruck als Signal

Insgesamt bilanziert sie: "Der eigene CO2-Abdruck ist immer auch ein politisches Signal. Die Politik wird keinen großen klimapolitischen Entwurf vorlegen, wenn sie bei jeder Entscheidung fürchten muss, dass ihr die Wählerschaft wegbricht."

Die kommende Bundestagswahl sei nun das wichtigste Signal. "Jede Regierungskoalition, die versucht, Klimaschutz wirklich voranzutreiben, braucht eine stabile Mehrheit dafür", erinnert Engels.

Um vom individuellen Aktionismus zu einer größeren Strategiefähigkeit der Akteure zu kommen, hat sie einen weiteren Tipp: "Aktuell werden in den Ministerien Pläne für die Koalitionsverhandlungen nach der Wahl ausgearbeitet. Man kann sich zusammentun und den einzelnen Bundestagsabgeordneten im Wahlbezirk Briefe schreiben und deutlich machen, was für einen selbst wahlentscheidend sein wird."

Über die Expertin: Prof. Dr. Anita Engels ist Professorin für Soziologie, insbesondere Globalisierung, Umwelt und Gesellschaft an der Universität Hamburg.

Verwendete Quellen:

  • Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Nukleare Sicherheit: Positiver Trend der Vorjahre setzt sich fort / 40,8 Prozent Rückgang seit 1990
  • Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Nukleare Sicherheit: CO2-Preis: Anreiz für einen Umstieg auf klimafreundliche Alternativen
  • Fridays for Future
  • Umweltbundesamt: Treibhausgase
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