Recep Tayyip Erdogan hat die Stichwahl gewonnen und bleibt Präsident der Türkei. Beobachter fürchten, dass die Türkei damit vollständig in eine Autokratie abdriftet. Sind die Sorgen berechtigt und was erklärt das Wahlergebnis? Zwei Experten sprechen über ein gespaltenes Land, einen Traum Erdogans und die Frage: Wie geht es nun weiter?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Präsident Recep Tayyip Erdogan bleibt im Amt – er hat die Stichwahl am Sonntag gewonnen. Das gab die Wahlbehörde in der Türkei bekannt, Erdogan landete mit rund 52 Prozent der Stimmen vor seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu (48 Prozent). Damit kann der 69-Jährige weitere fünf Jahre regieren.

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Noch vor der Bekanntgabe des Ergebnisses und nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale hatte Erdogan sich zum Sieger des Abends erklärt. Bei der ersten Wahlrunde am 14. Mai hatte es keiner der Kandidaten auf die absolute Mehrheit der Stimmen gebracht.

Strategische Fehler haben Kemal Kilicdaroglu den Sieg gekosten

Erdogan hatte damals mit 49,5 Prozent der Stimmen vor Herausforderer Kilicdaroglu gelegen. Beobachter hatten daher einen Wahlsieg Erdogans erwartet. So auch die Türkei-Experten Fabian Felder und Rasim Marz.

Aus Sicht von Marz haben viele strategische Fehler dem Oppositionsbündnis um Kilicdaroglu letztlich den Wahlsieg gekostet. "Angefangen im langwierigen Streit um den richtigen Kandidaten, wurde mit Kemal Kilicdaroglu keine charismatische Persönlichkeit, sondern ein Bürokrat alter Schule nominiert", sagt er. Junge und dynamische Politiker aus den eigenen Reihen seien außen vor gelassen worden.

Nationalistische Töne haben Herausforderer Glaubwürdigkeit gekostet

Die Unterstützung Kilicdaroglus durch die Wähler der linken kurdischen Partei HDP habe Präsident Erdogan außerdem für seine eigene Agenda genutzt. "Der schwerwiegende Vorwurf, Unterstützung durch PKK-Terroristen und deren Anhänger zu erhalten, hat es Kilicdaroglu nicht ermöglicht, auch im rechten Lager nötige Stimmen zu mobilisieren", erklärt er. Kilicdaroglu sei als Versöhner angetreten, habe sich nach der ersten Runde aber nationalistischen Parolen hingegeben, die auch viele kurdische Wähler verschreckt haben.

Die nationalistischen Töne und der Rechtsaußen-Kurs haben auch aus Sicht von Felder die Glaubwürdigkeit von Kilicdaroglu untergraben. "Er hat mit rechtsextremen und rassistischen Parteien paktiert, um dort noch zwei bis drei Prozent Wählerpotential abzugreifen", sagt er.

Gleichzeitig sei die "Iyi Parti", die Teil des Sechs-Parteien-Bündnisses sei, das Kilicdaroglu als Präsidentschaftskandidat aufgestellt hatte, eine kemalistisch-nationalistische Partei, die einen sehr harten Kurs in der Kurden-Politik fährt.

Experte über Erdogan: "So viel Macht wie nie zuvor"

Das habe sich auf die Wahlbeteiligung in den kurdischen Gebieten im Osten der Türkei niedergeschlagen: "Hier war man zurückhaltender gegenüber Kilicdaroglu als in der ersten Wahlrunde am 14. Mai. Eventuell hat der nationalistisch-extreme Kurs im Wahlkampf der zweiten Runde Kilicdaroglu entscheidende Stimmen aus den Kurdengebieten gekostet", vermutet Felder.

Er ist sich sicher, dass Erdogan nun einen Traum erreicht hat: Er wird
am 29. Oktober beim 100-jährigen Staatsjubiläum als Präsident im Rampenlicht stehen. "Politisch hat Erdogan so viel Macht wie nie jemand vor ihm, das Präsidialsystem ist exakt auf ihn zugeschnitten und dient nur dem Zweck, die Ära Erdogan zu eben dieser zu machen", analysiert der Experte.

Erdogan sieht Wiederwahl als Bestätigung seiner Politik

Auch Marz bezeichnet das Wahlergebnis für Erdogan als "historischen Wahlsieg mit Strahlkraft". Am 14. Mai 1950 habe der islamisch-konservative Politiker Adnan Menderes die Wahlen gegen die CHP gewonnen und ihre langjährige Herrschaft abgelöst. Präsident Erdogan habe an dieses symbolträchtige Datum angeknüpft.

Experte Felder geht davon aus, dass Präsident Erdogan das Ergebnis seiner Wiederwahl als Bestätigung seiner Politik der vergangenen Jahre sehen wird. Die Befürchtung, dass die Türkei nun noch autoritärer regiert werden wird, hält er für berechtigt. Dazu zählen beispielsweise weitere Einschnitte bei Frauen- und Menschenrechten, bei der Presse- und Meinungsfreiheit sowie die Repression gegen politische Oppositionelle.

Wahlkampf verlief nicht fair

Schon jetzt seien Wahlkampf und Wahlen nicht völlig fair verlaufen. Zwar habe es keine größeren Berichte über Betrug oder Fälschungen gegeben, die AKP habe aber jede Menge juristische Tricks und Formalwindungen genutzt. "Das sahen wir in der ersten Wahlrunde am 14. Mai, als plötzlich die Auszählungen vielerorts stoppten, da die lokalen AKP-Vorstände gegen jedes Ergebnis, bei dem die Opposition knapp vorne lag, formaljuristisch Einspruch einlegten", sagt er.

Außerdem kontrolliere die Regierung weitgehend alle Medien im Land. "Die Wahlen mögen fair und frei gewesen sein, der Wahlkampf hingegen war unfair und von Ungleichgewicht geprägt", resümiert er. Das staatsnahe Fernsehen habe Erdogan stundenlange Berichterstattung eingeräumt, während Kilicdaroglu nur Minuten zugestanden wurden.

Felder: "Da läuft es einem kalt den Rücken runter"

"Der Gewinner dieser Wahl auf beiden Seiten ist eindeutig der Nationalismus", sagt Felder. Erdogan habe mit seinen rechtsextremen und ultrakonservativen Koalitionspartnern eine komfortable Mehrheit im Parlament, das er nach wie vor zum Regieren brauche. "Ich sehe die Gefahr einer weiteren Konsolidierung des rücksichtslosen konservativ-islamischen Mehrheits-Autoritarismus. Kurz gesagt: Erdogan wird die 52 Prozent des Wahlergebnisses als 100-prozentigen Auftrag sehen, seine Agenda ohne Kompromisse weiterzuverfolgen."

Am Wahlabend habe sich Erdogan seinen Anhängern präsentiert und ihnen zugerufen: "Wir werden bis ins Grab bei Euch bleiben!" Felder wird deutlich: "Da läuft es einem kalt den Rücken runter."

Denn das Land habe viele Baustellen, darunter eine desolate Wirtschaft und eine noch immer hohe Inflation. Die Gesellschaft sei so gespalten wie nie: zwischen Erdogan-Anhängern und -Gegnern, zwischen Religiösen und Säkularen, zwischen ethnischen Mehrheiten und Minderheiten.

Türkei wird schwieriger Partner für die EU sein

"In früheren Jahren gab es nach den Wahlen gesellschaftliche und politische Dispute, die ausgetragen wurden. Heute ist die Türkei leider an einem Punkt, an dem die Wahl an sich bereits ein Konfliktpunkt ist", sagt er. Die größte Aufgabe für einen Präsidenten jeden Landes sei daher die Ver- und Aussöhnung der Gesellschaft und die Überwindung der Spaltung.

Experte Marz erklärt: "Der Westen wird weiterhin einen schwierigen Partner in der Türkei finden: Es bleibt abzuwarten, ob das Flüchtlingsabkommen in seiner jetzigen Form weiter Bestand haben wird und wie sich Präsident Erdogan auf dem Nato-Gipfel im Juli hinsichtlich des Nato-Beitritts Schwedens positionieren wird."

Eine Annäherung zwischen der Europäischen Union und der Türkei sei nicht in Sicht - und werde sich im Falle des Falles nur auf die nötigste Zusammenarbeit beschränken.

Über die Experten: Rasim Marz ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische und osmanische Diplomatie des 19. Jahrhunderts sowie die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.
Fabian Felder studierte Orient- und Asienwissenschaften mit Schwerpunkt Arabische Sprache/Westasien an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zu seinen Fokusthemen gehören die Türkei und die Levante (Irak, Jordanien, Libanon). Er war für verschiedene Print- und Online-Medien tätig und arbeitet derzeit als freier Redakteur beim Ereignis- und Dokumentationskanal phoenix von ARD und ZDF in Bonn.
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