Das totale Tempolimit ist ein Fetisch von Öko-Ideologen. Er wird bei jeder passenden und peinlichen Gelegenheit beschworen - und sei es der Krieg in der Ukraine. Dabei ist die Forderung sachlich grotesk, 99 Prozent der deutschen Straßen haben bereits ein Tempolimit, und auf den wenigen freien Strecken gibt es in Wahrheit Staus oder Baustellen.

Dr. Wolfram Weimer
Eine Kolumne
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Was immer wetterselig oder weltpolitisch passiert, Deutschlands Öko-Ideologen fordern reflexartig ein totales Tempolimit. Gewitter in Indien, steigende Ölpreise, Amoklauf in Texas, Krieg in der Ukraine - sofort taucht der kommunikative Fetisch auf, das Tempolimit ist so etwas wie ein öko-puritanisches Opferritual. Man wird gewiss bald auch bei den Affenpocken irgendeinen Zusammenhang konstruieren, der das totale Tempolimit als Lösung vorschlägt.

Der ideologische Überschwang beim Thema Tempolimit wird zum einen daran erkennbar, dass ein winziges Randphänomen des deutschen Alltags zum riesigen Popanz aufgebauscht wird. Zum anderen am totalitären Furor, mit dem auch für den letzten Zentimeter Straße die Verbotsordnung gelten soll.

Denn die Fakten zeigen, dass Deutschland längst ein umfassendes Tempolimit hat. Von den 650.000 Kilometer Straßen in der Bundesrepublik unterliegen 99 Prozent einem Tempolimit. In allen Orten und Städten dürfen Autos nur 50 und zusehends gar nur noch 30 Kilometer pro Stunde fahren. Auf allen Landstraßen gilt ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde, ebenso auf Bundes- und Kreisstraßen. Vielfach ist dies auf 80 reduziert. Und selbst auf den 13.000 Kilometern Autobahnen sind die meisten Strecken inzwischen mit Tempobeschränkungen versehen. Obendrein steigt der Kontrolldruck enorm. Immer mehr Radarfallen drangsalieren die Bürger, 4500 fest installierte, dazu mehr als 10.000 mobile Radarfallen. Dem Staat geht es dabei weniger um Verkehrssicherheit oder Umweltschutz, sondern ums schiere Geld.

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Tempo-Ideologen sehen nicht das wahre Leben

Nun gibt es in Deutschland verstreut noch wenige einzelne Autobahnkilometer ohne ein Tempolimit. Doch die sind häufig mit Baustellen versehen - und damit ebenfalls unter dem Tempolimit-Kuratel. Und auch die zunehmende Zahl von Staus führt dazu, dass wirklich schnelles Fahren fast unmöglich ist. 2000 Staus werden im Schnitt am Tag gezählt, 460.000 Stunden stehen Deutsche im Jahr im Stau und hören sich dann im Autoradio Debatten um ein Tempolimit an. Das ist grotesk. Fazit: Es gibt ein umfassendes Tempolimit der Realität. Doch das reicht Öko-Ideologen offenbar nicht. Ihnen geht es um die letzten Zentimeter, in denen möglicherweise doch noch einer 140 fährt.

Verkehrsstudien zeigen, dass das auf den wenigen freien Strecken nur noch sporadisch, abends oder nachts passiert. Etwa wenn die Schichtarbeiterin noch schnell über die Autobahn zur pflegebedürftigen Mutter fährt, um sie ins Bett zu bringen. Oder wenn der Vertreter nach einem langen Arbeitstag spät am Abend schnell nach Hause fährt, um seine Familie noch mal kurz zu sehen. Oder wenn nachts die Wehen kommen und das werdende Elternpaar ins Krankenhaus eilt.

Das ist das wahre Leben, für das Tempo-Ideologen weder Blick noch Herz haben. Sie leben lieber einen totalitären Verfolgungswahn aus. Wem 99 Prozent nicht reichen, der muss sich fragen, was sein wahres Motiv ist. Der Umwelteffekt des totalen Tempolimits dürfte in homöopathischen Dosen liegen, zumal bald alle Autos elektrifiziert und hoffentlich emissionsfrei fahren. Was soll also die geifernde Forderung nach dem generellen Verbot? Es entsteht der Eindruck, dass es sich um einen politischen Popanz für Menschen handelt, die Freiheit nicht ertragen und staatliche Bevormundung als einen generellen Segen betrachten. Dahinter steht offenbar ein Menschenbild, das Bürger grundsätzlich als rasende, egomane Idioten betrachtet, die sich zu rechtfertigen haben, wenn sie Freiheit leben. Dabei ist es in einer Demokratie genau umgekehrt: dass eine staatliche Macht gut rechtfertigen muss, warum sie die Freiheiten der Bürger beschränkt. Das aber ist beim totalen Tempolimit kaum möglich.

Ökologisten als Endzeitproheten

Von Heinrich Heine stammt die Klage: "Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib. Der Franzose wie seine Braut. Der Deutsche wie seine lästige, alte Großmutter." Die Klage ist Legende. Doch Heine ahnte nicht, dass bei deutschen Öko-Ideologen die Freiheit auch auf dem letzten Zentimeter umgebracht werden muss. Kann es sein, dass die Tempolimit-Debatte verrät, wie weit sich ein neuer Ökologismus ausbreitet?

Ökologisten sehen sich als Endzeitpropheten, als letzte Generation, die mit zusehends aggressiver Vehemenz nur ihre eine reine Lehre zulassen. Ihnen reichen keine 99 Prozent Reglementierung. Sie wollen eine Tugendrepublik von Öko-Puritanern, die von der Bratwurst bis zum Flugzeug allerlei verteufeln und von uns permanent einfordern, Freiheiten zu opfern für den Konformismus des Guten. Ihr Tonfall ist im besten Fall der von zeigefingernden Supernannys. Ihr Besserwisser-Repertoire kennt Dutzende von Verboten und Feindbilder - vom Kaminfeuer bis zum Kreuzfahrtschiff, vom Schnitzel bis zum Bier. Überall wollen sie besteuern, reglementieren, vorschreiben, verbieten. Der Trend lautet: Bloß nichts ins Ermessen des Einzelnen legen. Selbst wenn wir bürokratisch schon halb ersticken, hat die öko-soziale Supernanny noch eine Vorschrift, eine Warnung, eine Regulierungsbehörde mehr parat.

Wer unter Ökologisten nach Schillers toleranter Welt Ausschau hält ("Wie wohl ist einem bei Menschen, denen die Freiheit des anderen heilig ist"), muss langsam große Brillen haben. Denn der neue Paternalismus kennt Profiteure, die ihn immer weitertreiben. Das ökologistische Milieu bringt laufend neue Lobbyisten der Gewissheitsindustrie hervor, von selbst ernannten Verbraucherschützern über Klimaretter bis zu Sozialstaatsmanagern, die Geld und Geschäft mit der kollektiven Infantilisierung so verfolgen, dass sie ihre Nachfrage immer selbst erzeugen. Ihre Absicht, das Land in einen gigantischen Kindergarten zu verwandeln, folgt einer ganz eigenen Logik, denn dann haben sie als Kindergärtner des höheren Gemeinwohls ihr Auskommen.

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Tempolimit ist keine Problemlösung

"Der Ökologismus ist heute eine der einflussreichsten Religionen der westlichen Welt", schrieb einmal der verstorbene Schriftsteller Michael Crichton ("Jurassic Park"). "Es scheint die bevorzugte Religion urbaner Atheisten geworden zu sein." Tatsächlich erinnert ihre Weltuntergangsrhetorik an radikalreligiöse Bewegungen der Vergangenheit.

Und so formuliert der Ökologismus Gebote, die para-religiös daherkommen. Etwa: Du sollst dich immer fürchten! Das schlimmste Szenario ist stets das wahrscheinlichste. Du sollst ein schlechtes Gewissen haben! Wer arbeitet, sich bewegt und lebt, schadet der Umwelt. Du sollst die Freiheit verabscheuen! Der Planet kann nur durch zentrale Planung staatlicher Großbürokratien gerettet werden. Sie opfern die Freiheit der Debatte und diffamieren Andersdenkende als Ungläubige. Sie wähnen sich im Besitz der einen, einzig gültigen Wahrheit, dabei gibt es gerade in Umwelt- und Klimafragen viele Wahrheiten - und auch viele Problemlösungen. Das totale Tempolimit ist keine.

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