Was geschieht mit dem Gehirn eines Kindes, wenn es kaum Kontakt zu Gleichaltrigen hat? Wenn es keine Natur sehen, kein Gras mehr fühlen kann? Wenn der Schulunterricht nur online stattfindet und es weder Sport- noch Kulturangebote gibt? Die Entwicklung der Kinder in der Donezk-Region sei stark gefährdet, sagt Psychologe Herbert Scheithauer im Gespräch mit unserer Redaktion.

Eine Analyse
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Das Gelände fällt auf. Es ist bunt, auf dem Karo-Schaumboden springen Kinder umher. Die Schaukeln haben verschiedene Farben, auf den Gerüsten klettern die kleinen Besucher munter auf und ab. In diesem privaten Kindergarten in der ukrainischen Kleinstadt Dobropillja scheint die Welt in Ordnung zu sein. Zumindest zweimal in der Woche, alle zwei Wochen. Und das auch erst seit Kurzem.

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Dobropillja liegt im Osten des Landes, in der Oblast Donezk. Die Frontlinie bei der kürzlich gefallenen Stadt Awdijiwka ist noch immer rund 50 Kilometer entfernt, Beschuss gab es seit Monaten nicht – nur die Luftabwehr ist hin und wieder aktiv. Auch deshalb kann der Kindergarten wieder aufleben, erzählt eine Erzieherin vor Ort. Es sei lange nicht klar gewesen, ob überhaupt geöffnet werden könne, doch für die Entwicklung der Kleinen sei es wichtig, Gleichaltrige wieder einigermaßen regelmäßig zu treffen – das sei ihnen nämlich lange verwehrt geblieben.

Kinder in Region Donezk seit zwei Jahren isoliert

Um das Gelände des Kindergartens herum zeichnet sich ein typisches Donbass-Bild: Heruntergekommene Häuserblocks ziehen Quadrate um das Areal. Verrostete Klimaanlagen hängen neben zersprungenen Fensterscheiben, hier und da flattert Unterwäsche an den Wäscheleinen im Wind. Ob die Häuser aufgrund von Verfall oder Beschuss in diesem Zustand sind, ist im Donbass nicht immer klar. Manche Gebäude sind seit der ersten russischen Invasion 2014 beschädigt, andere einfach nur alt, wieder andere zeigen die Konsequenzen eines Raketeneinschlags aus den vergangenen zwei Jahren.

An diesem sonnigen Tag ist eine ukrainische Hilfsorganisation zu Besuch, die den Kindern bunte Modelliermasse mitgebracht hat, mit ihnen töpfert und versucht, Wissen über die ukrainische Künstlerin Marija Prymatschenko zu vermitteln. Ein besonderes Event ist das für die Kleinen – endlich mal ein wenig Abwechslung.

Zu Beginn der russischen Invasion waren alle Schul- und Kinderbetreuungseinrichtungen geschlossen worden. Zu gefährlich war es, Kinder und Jugendliche auf einem Haufen zu sammeln. Diese Regel hat sich im Rest des Landes, auf relativ sicherem Grund, mittlerweile wieder revidiert. Doch dort, wo man sich nahe der Front befindet, gilt sie nach wie vor.

Das heißt: Seit zwei Jahren leben die Kinder und Jugendlichen in den meisten Orten der Region Donezk im Ausnahmezustand. Kein Präsenzunterricht, keine Sportangebote, von Kultur gar nicht erst anzufangen. Dinge, die es zumindest in Städten wie Kramatorsk, Slowjansk, Pokrowsk oder auch Bachmut in der Regel gab. Die große Pause mit den besten Freunden verbringen, sich nach dem Unterricht auf dem Fußballplatz treffen, Abenteuer im Wald erleben, ins Kino gehen, das erste Mal verknallt sein, der erste Kuss. All das ist seit mindestens zwei Jahren kaum möglich für jene Generation, die die Zukunft der Ukraine einmal prägen soll.

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Natalija, zwölf Jahre alt, in einem Bus auf dem Weg nach Kramatorsk. © Joana Rettig

Experte: "Soziale Kontakte stehen für Strukturen"

"Um zu sehen, wie wichtig soziale Kontakte für die Entwicklung sind, muss man noch nicht einmal in ein Kriegsgebiet fahren", sagt der Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer im Gespräch mit unserer Redaktion. "Das sehen wir auch hier in Deutschland und weltweit in Folge der Corona-Pandemie, wo auch viele Kinder eine Zeit lang ohne Freunde, ohne Schule, ohne Sportverein - also ohne soziale Kontakte zurechtkommen mussten."

Es gehe nicht nur um die Interaktion, sagt Scheithauer: "Soziale Kontakte stehen für Strukturen." Gingen Kinder und Jugendliche nicht regelmäßig in die Schule, würden sie Strukturen verlieren, die für sie jedoch besonders wichtig seien. Vor allem sei das wichtig für jene, die zu Hause diese Strukturen nicht haben.

Und es geht auch nicht bloß um soziale Kompetenzen. Sogenannte Entwicklungsdomänen seien oft eng miteinander verknüpft. Da gibt es zum Beispiel die emotionale Domäne, aber auch die kognitive und die motorische. "Erfahrungen finden meist nicht nur auf einer Ebene statt", sagt Scheithauer. Zum Beispiel hätten Kinder mit ausgefeilten motorischen Kompetenzen meist auch bessere kognitive Fähigkeiten.

"Deshalb ist es auch so wichtig, in der Schule Sport zu machen", fährt der Psychologe fort. Nachmittagsprogramme, Kulturveranstaltungen, Fußballtraining, das Vorlesen am Abend – all diese Aktivitäten sind demnach wichtig, weil sie verschiedene Ebenen der Entwicklung ansprechen. "Wenn ich zum Sport gehe, bewege ich mich nicht nur, sondern ich erlebe dort Regeln, Normen, Interaktion." Gleichzeitig bedeutet das: Wenn sich ein Kind motorisch gar nicht bewegt, wird es wahrscheinlich auch in anderen Entwicklungsbereichen Defizite haben.

Vor allem Jugendliche leiden

Natürlich, sagt der Psychologe, gibt es Unterschiede beim Alter. Gerade Jugendliche hätten während der Isolation durch die Corona-Pandemie besonders gelitten.

Auch Natalija erlebt seit zwei Jahren kaum noch etwas. Die Zwölfjährige wohnt in der Siedlung Jasnohirka, die nord-westlich an die Großstadt Kramatorsk grenzt. Die Siedlung beherbergt Dutzende Soldaten, auch einen Schießübungsplatz gibt es, woran die Einwohner täglich geräuschvoll erinnert werden. Die Wiesen und Wälder dürfen kaum betreten werden, zu groß ist die Gefahr, dass sich irgendwo eine Mine verirrt haben könnte.

Natalja geht in die siebte Klasse, ihre Lieblingsfächer sind Kunst und Englisch. Doch die Schule hat sie lange nicht von innen gesehen. Sie folgt dem Unterricht auf ihrem Handy – einen Computer hat die Familie nicht. Das Mädchen mit den blonden Haaren und dem markanten Gesicht sitzt in einem Bus in Richtung Kramatorsk. Auch hier versucht eine Hilfsorganisation ein wenig Normalität in den Alltag der Kinder und Jugendlichen zurückzubringen, ein Jugendzentrum wird hier aufgebaut.

Neben der Zwölfjährigen sitzt Palina. Fünf Jahre alt, abgetragene Kleider, ein beißender Geruch geht von ihr hervor. Natalija erzählt, dass es Palina etwas schwerer habe als sie. Ihre Mutter trinke, genauso wie die Großmutter. Palina komme häufig vorbei, weil sie Hunger habe. Das liege nicht daran, dass sich die Familie nichts zu essen leisten könne, erzählt die Teenagerin. Palina bekomme nur eben nichts wirklich Nahrhaftes. Natalija wirkt auffällig erwachsen für ihr Alter. Mitfühlend, besorgt.

Im Jugendalter, erklärt Psychologe Scheithauer, hätten Peer-Kontakte eine ganz besondere Bedeutung. "Denn dies ist die Zeit, in der eigentlich eine Loslösung von unserem häuslichen Umfeld stattfindet, wo wir uns stärker an anderen orientieren, unsere Identitätsentwicklung an anderen ausrichten."

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Dobropillja: Kinder an einem der wenigen Tage, die sie in ihrem privaten Kindergarten verbringen dürfen. © Joana Rettig

Forderung: An Jugendliche denken

All das findet derzeit in der Donezk-Region kaum bis gar nicht statt. "Das ist für Jugendliche natürlich besonders dramatisch", sagt der Psychologe. Auch, weil nichts gemeinsam erlebt werde. "Überlegen Sie mal, wie das war, als Sie 16 waren. Was Sie da gemacht haben, wie schön das war, wie gerne man sich auch Jahre später noch daran erinnert. Das wird den Jugendlichen gerade alles genommen - und das kann man meist nicht mehr nachholen."

Deshalb sei das Denken an diese Gruppe Mensch und auch an diese Ebene von humanitärer Hilfe so wichtig, sagt Scheithauer. Bereits jetzt, während des Krieges, aber auch danach. Wie es die ukrainische Hilfsorganisation in Kramatorsk mit ihrem Jugendzentrum macht. Alltag zurückgeben. Möglichkeiten bieten, um Sozialkontakte zu pflegen, Kunst und Sport zu betreiben – aber auch Raum für Gefühle zu geben. Doch die finanziellen Mittel und auch fachlichen Kompetenzen sollten auch von Staaten wie Deutschland bereitgestellt werden – um mögliche Entwicklungsdefizite wieder ausgleichen zu können.

Die Frage ist: Wurde irgendwann so viel Negatives, so viel Isolation erlebt, dass ein Ausgleich nicht mehr möglich ist? Laut dem Experten gibt es dieses Risiko. "Gerade durch die Kombination aus fehlendem Sozialleben und ständiger Bedrohung." Eltern können natürlich versuchen, ein geordnetes Umfeld zu schaffen, ihre Sorgen und Ängste zu verbergen. Doch in solch einer prekären Lage schaffen sie das immer seltener. "Das kann zu einem dauerhaften Stresserleben von Kindern führen. Aus der Forschung wissen wir, dass Kinder, die etwa wegen Misshandlungen zu Hause über lange Zeit dauerhaftem Stress ausgesetzt wurden, irreparable Gehirnschäden davontragen."

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Dauerstress kann Entwicklung massiv hemmen

Die Gehirnentwicklung wird durch eine dauerhafte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol beeinträchtigt und kann später auch nicht mehr ausgeglichen werden. "Wenn also jetzt ein Kind zwei Jahre in Frontnähe lebt, im Kriegszustand, in ständiger Angst, vielleicht auch mit Verlusten von Verwandten konfrontiert ist, könnte dies seine Entwicklung massiv hemmen." Natürlich ließe sich das nicht pauschal prognostizieren, denn die Entwicklung hänge von vielen Faktoren ab. Doch die Gefahr ist real.

Die zwölfjährige Natalija wirkt, als hätte sie bereits viele negativen Erfahrungen gemacht. Als habe ihr Geist schneller erwachsen werden müssen als ihr Körper. Doch im Kontakt mit ihren Freundinnen, im neuen Jugendzentrum in Kramatorsk, zeigt sie dann wieder ihr Teenager-Gesicht. Sie kichert, steht in der Ecke und flüstert. Redet über Jungs in ihrer Klasse, umarmt ein anderes Mädchen – was Jugendliche eben tun. Doch diese Zeit ist nur begrenzt. Wenn das Jugendzentrum schließt, ist Natalija wieder gefangen im Trott des Krieges. Zuhause in Jasnohirka, wartend auf das nächste Mal Normalität.

Verwendete Quellen:

  • Recherche vor Ort in Dobropillja, Kramatorsk und Jasnohirk
  • Gespräch mit Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer
  • baseua.com: "Website der NGO Base UA"

Über den Gesprächspartner:

  • Herbert Scheithauer ist Psychologe und lehrt seit 2010 Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der Freien Universität Berlin, dort leitet er den Arbeitsbereich Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie. Bekannt wurde der Entwicklungswissenschaftler durch mehrere von ihm mitentwickelte Vorhaben zur Gewaltprävention an Schulen.
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