"Eine große Koalition für die kleinen Leute" - so lobte der CSU-Vorsitzende und neue Bundesinnenminister Horst Seehofer die neue Bundesregierung. Stimmt das? Zwei Experten analysieren für unsere Redaktion die sozialen Komponenten des Koalitionsvertrags. Das Fazit fällt ernüchternd aus.

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Mit dem Motto "Zeit für mehr Gerechtigkeit" war die SPD im vergangenen Jahr in den Bundestagswahlkampf gezogen. Anstrengungen für eine neue "soziale Balance" kündigte auch die Union an.

Im Februar mündeten diese Pläne in den Koalitionsvertrag, der schon in der Überschrift "neuen Zusammenhalt für unser Land" versprach.

Die "breite Mitte der Gesellschaft" und die "kleinen Leute" werden von den Vorhaben der großen Koalition profitieren, verkündete auch Innen-, Bau- und Heimatminister Horst Seehofer.

Doch ist das so? Der Politikwissenschaftler Peter Grottian, Professor am Otto-Suhr-Institut der Universität Berlin, und sein Uni-Kollege, der Wirtschaftswissenschaftler Timm Bönke schätzen Maßnahmen der GroKo ein.

1. Beispiel: Abbau des Solidaritätszuschlags

Der Koalitionsvertrag kündigt die Abschaffung des "Soli" für 90 Prozent der Steuerzahler bis 2021 an. Mit einer Freigrenze sollen die Bürger um zehn Milliarden Euro entlastet werden. Diese dürfte einer internen Berechnung des Finanzministeriums wohl bei 61.000 Euro zu versteuerndem Einkommen liegen. Wer mehr verdient, soll erst einmal weiterzahlen.

Grottian begrüßt die Maßnahme, kritisiert allenfalls, dass der Zeitpunkt des Wegfalls für alle Steuerzahler nicht konkret vereinbart sei.

Bönke dagegen findet, dass diese Steuersenkung vor allem Menschen mit mittlerem und sogar höherem Einkommen bevorteile - und eben nicht die kleinen Leute entlaste.

Denn: Vor allem wer viel verdient, wird beim Wegfall des Soli viel sparen. Bezieher niedriger Einkommen dagegen würden, so Bönke, nur mit "lächerlichen Beträgen" profitieren.

2. Beispiel: Sozialer Wohnungsbau

Viel zu spät, so Grottian, habe die Politik die wachsende Wohnungsnot wahrgenommen, nun sei die Reaktion zu kleinmütig: Die im Koalitionsvertrag beschlossenen zwei Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau seien "ein Tropfen auf den heißen Stein".

Bönke dagegen hält das Programm für geeignet, um das Problem von hohen Mieten und knappem Wohnraum "besonders in Ballungsgebieten" zu entschärfen: "Das kommt auf jeden Fall Familien und Einkommensschwachen zugute."

3. Beispiel: Baukindergeld

"Im Ansatz richtig" sei der Plan der Regierung, Familien bei der Eigenheimfinanzierung zehn Jahre lang mit 1.200 Euro pro Kind und Jahr zu unterstützen, konstatiert Grottian.

Sehr viele Menschen seien allerdings "weit davon entfernt", sich Wohneigentum leisten zu können – ihnen werde auch das Baukindergeld nicht helfen.

Dem stimmt Bönke zu. Er fände es sinnvoller, wenn die Regierung die Grunderwerbssteuer von mehr als zehn Prozent senken würde: "In Großbritannien liegen die Kaufnebenkosten unter einem Prozent", betont er.

Subventionen wie das Baukindergeld dagegen würden auf dem Markt sehr schnell "eingepreist".

4. Beispiel: Rückkehr zur Vollzeitarbeit

Die GroKo hat sich vor allem auf SPD-Druck darauf geeinigt, dass Arbeitnehmer in Firmen ab 45 Mitarbeitern ein recht auf die Rückkehr von einem Teilzeit- in einen Vollzeitjob haben. Bei 45 bis 200 Mitarbeitern soll das aber nur einem von 15 Mitarbeitern gewährt werden müssen.

Peter Grottian begrüßt diesen Plan: Dieser werde das Problem vermindern, dass "vor allem Frauen nach wie vor Gefahr laufen, in der Teilzeitfalle hängenzubleiben."

Wirtschaftswissenschaftler Bönke hält das hingegen für den falschen Weg. Es werde bewirken, dass manche Arbeitgeber beispielsweise nur noch ungern junge Frauen oder Mütter einstellen würden.

Um gerade Frauen zu fördern und Arbeitgeber bei der flexiblen Handhabung der Arbeitszeiten zu unterstützen, wären seiner Ansicht nach Arbeitszeitkonten der sinnvollere Weg.

5. Beispiel: Paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung

Dass die Krankenkassenbeiträge seit 2015 nicht mehr von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu gleichen Teilen getragen wurden, bezeichnet Grottian als "Schieflage", in der die Arbeitgeber sich "vor Verantwortung drücken" konnten.

Die nun angekündigte Rückkehr zur paritätischen Finanzierung sei eine "moralische Mindestanforderung" und daher rundum zu begrüßen.

Bönke wiederum bemängelt, die Maßnahme steigere die Lohnkosten der Arbeitgeber, der langfristige Entlastungseffekt für die Arbeitnehmer sei dagegen gering.

Fazit der Experten: Zu wenig und zu wenig Mut

Bei beiden Experten überwiegt angesichts der sozialen Komponenten des Koalitionsvertrags die Skepsis.

Peter Grottian sieht in den Ankündigungen der Koalitionäre vor allem "ein Missverhältnis zwischen hohem Gerechtigkeitsanspruch und wenig konkreten Maßnahmen".

Er ist sich zudem sicher, dass sich ein Großteil der Bürger deutlichere Maßnahmen in Hinblick auf soziale Gerechtigkeit wünscht.

Timm Bönke sieht gute Ansätze, aber "leider keine innovativen Wege". Er hätte sich "mehr Mut für Grundlegenderes" gewünscht, sieht "zu viel Herumschrauben an den Problemen des bestehenden Systems".

Den "kleinen Leuten" würden seiner Ansicht nach am besten solche Maßnahmen helfen, die auch dem Arbeitsmarkt nutzen. Vieles im Sozialsystem sei "zu kompliziert" oder "veraltet".

Die Menschen auch und vor allem im unteren Einkommensbereich bräuchten vor allem "mehr Eigenverantwortung", zum Beispiel im Bereich der Lebensarbeitszeit, vor allem aber ein Steuersystem, das an das Sozialsystem angepasst sei: leicht verständlich und aus einem Guss.

Davon seien die Pläne des Koalitionsvertrags weit entfernt.

Prof. Dr. Peter Grottian forscht und lehrt am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Staats- und Verwaltungsforschung sowie neue soziale Bewegungen.
Professor Dr. Timm Bönke ist Wirtschaftswissenschaftler und forscht schwerpunktmäßig zur Verteilung von Einkommen und Vermögen. Auch er arbeitet an der Freien Universität Berlin.
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