• Die Taliban haben in Afghanistan offenbar auch das Pandschir-Tal eingenommen.
  • Die Provinz hatte den Islamisten zuvor jahrzehntelang erfolgreich Widerstand geleistet.
  • Der Afghanistan-Experte Jan Koehler plädiert dafür, dass der Westen Kontakte zu den Taliban aufbaut: "Nach meiner Einschätzung wäre es fatal, wenn man sich komplett zurückzieht."

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Die Taliban können offenbar einen weiteren Erfolg verbuchen: Die militanten Islamisten haben Pandschir, die letzte noch nicht unter ihrer Kontrolle stehende Provinz, erobert. Das teilte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid in einer am Montag veröffentlichten Erklärung mit. Es wäre ein Sieg mit großer strategischer und symbolischer Bedeutung, denn das Pandschir-Tal gilt als schwer zugänglich.

Vonseiten der Widerstandskämpfer in Pandschir gab es zunächst keine offizielle Bestätigung: Ein Sprecher der Nationalen Widerstandsfront teilte einen Tweet, in dem es hieß, die Meldungen vom Taliban-Sieg seien falsch. Dazu schrieb er selbst, der Kampf werde fortgesetzt, bis die Aggressoren aus dem Land entfernt seien.

Der Anführer der Widerstandsgruppe, Achmad Massoud, rief zu einem nationalen Aufstand gegen die militant-islamistischen Taliban auf: "Wir rufen Sie auf, einen allgemeinen Aufstand zu beginnen, um der Ehre, Freiheit und dem Stolz unserer Heimat willen", sagte er in einer am Montag veröffentlichten Audiobotschaft.

Ein Taliban-Sprecher teilte dagegen ein Bild, das Taliban-Kämpfer vor dem Gouverneurssitz in der Provinzhauptstadt Basarak zeigen soll.

Warum gilt das Pandschir-Tal als Widerstandsnest?

Zuvor hatte sich in der Provinz Pandschir eine Allianz gegen die neuen islamistischen Machthaber formiert, die nach dem Abzug ausländischer Soldaten fast das ganze Land unter ihre Kontrolle gebracht haben.

Dass sich ausgerechnet dort Widerstand bildet, ist kein Zufall: Das etwa 100 Kilometer nördlich von Kabul gelegene Pandschir-Tal ist langgezogen und schwer einsehbar. Es war bisher die einzige der 34 Provinzen, die nicht in die Hände der Taliban gefallen war.

"Schon in den 1980er Jahren konnte es von den sowjetischen Bodentruppen nicht eingenommen werden", erklärt Ethnologe Jan Koehler im Gespräch mit unserer Redaktion. Auch die Taliban seien später daran gescheitert, das Tal einzunehmen. Jetzt ist es ihnen offenbar doch gelungen.

Ein Kopf der Widerstandsbewegung in Pandschir soll Amrullah Saleh sein, der Vizepräsident der alten Regierung. Auch der ehemalige Verteidigungsminister Bismillah Khan Mohammadi soll zur Führungsriege gehören. Als Anführer der Widerstandskämpfer gilt jedoch der gleichnamige Sohn des "Nationalhelden" Ahmad Schah Massoud. Letzterer gehörte in den 1980er Jahren zu den Köpfen des Widerstands gegen sowjetische Truppen.

Der ältere Massoud war bei einem Attentat von Al-Kaida 2001 ums Leben gekommen, sein Sohn trat in die Fußstapfen der Nordallianz-Führer und soll nun im Pandschir-Tal Unterschlupf gefunden haben.

Die Anti-Taliban-Koalition verwendet die gleiche grün-weiß-schwarze Flagge wie einst die Nordallianz im Kampf gegen die Taliban: Auf Videos in sozialen Netzwerken waren Kolonnen damit im Pandschir-Tal zu sehen. Bilder zeigten auch Massoud und Saleh bei Beratungen in der Provinz.

Provinz vor allem von Tadschiken bewohnt

In Pandschir seien mehrere "Rebellen" geschlagen worden, der Rest sei geflohen, teilten die Taliban nun mit. Man gebe den Menschen von Pandschir die volle Gewissheit, dass sie nicht diskriminiert würden und dass "ihr alle unsere Brüder seid und wir einem Land und einem gemeinsamen Ziel dienen werden", hieß es in der Erklärung weiter.

"In der Provinz leben hauptsächlich tadschikische Afghanen", erklärt Jan Koehler. Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat mit vielen Ethnien. Die größte und einflussreichste davon sind die Paschtunen, aus ihnen rekrutieren sich auch die meisten Taliban. Tadschiken gehören zur zweitgrößten Volksgruppe. Unterschiede gibt es in sprachlicher Hinsicht und im Hinblick auf den Zugang zur Staatsmacht, der historisch von Paschtunen dominiert wurde.

Die Pandschir-Frage sollte ursprünglich durch Verhandlungen gelöst werden. Achmad Massoud hatte sich in der Nacht zu Montag zu einer Verhandlungslösung bereit gezeigt, um die Kämpfe zu beenden. Er erklärte, den Krieg sofort zu beenden, falls die Taliban ihre Angriffe in Pandschir beendeten. Die Widerstandsfront sei bestrebt, Konflikte mit den Taliban friedlich beizulegen.

Am Dienstag hatten allerdings Gefechte begonnen, als Taliban Kontrollpunkte am Taleingang angriffen. Seither hatten sich die Kämpfe täglich verstärkt. Die Islamisten rückten offensichtlich weiter in das Tal vor.

Widerstandskämpfer Massoud äußerte sich nicht zur aktuellen Situation in Pandschir. Er sagte nur, dass die Menschen in jeder möglichen Form kämpfen könnten, sei es durch bewaffneten Kampf oder durch Proteste. Die Nationale Widerstandsfront stünde bis zum letzten Moment an ihrer Seite.

Ziel: Eine Rolle im künftigen Afghanistan spielen

Nach Einschätzung von Jan Koehler besteht das Ziel der Widerstandsfront darin, Einfluss auf die Taliban zu gewinnen. Die Taliban hätten sich in den letzten Jahren diversifiziert, sich anderen Gruppen geöffnet und würden dadurch im Norden des Landes ein verändertes Image unter den gewaltfähigen Akteuren genießen.

"Die zurückgezogenen Kommandeure und Power-Broker wollen nun zusammen mit anderen Vertretern des Nordens, etwa Vertretern der Hazarern oder Usbeken, versuchen, mit den Taliban eine 'afghanische' Lösung zu erreichen", so der Experte.

Sie wollten im zukünftigen Afghanistan eine Rolle spielen und machten den Taliban deshalb deutlich: "Wir können euch das Leben im Land schwermachen und der Welt erzählen, dass ihr immer noch eine rein paschtunische Unternehmung seid, oder ihr bezieht uns mit ein!" Eine Sturz-Gefahr bestehe für die Taliban nur durch innere Zerfleischung oder durch noch radikalere Kräfte wie Daesh, der Terrormiliz Islamischer Staat.

Wie könnte es nun weitergehen?

Die Frage, wie sich der Westen den Taliban gegenüber positioniert, hält Koehler für die Zukunft des Landes für entscheidend. "Nach meiner Einschätzung wäre es fatal, wenn man sich komplett zurückzieht", sagt er. Die Taliban würden nicht in der Lage sein, das Land nachhaltig und ohne internationale finanzielle Unterstützung zu führen.

"Russland, Türkei und China haben sich beispielsweise schon positioniert. Auch wenn das eine ziemliche Kröte zu schlucken ist, könnte der Westen ein Interesse daran haben, dass eine Stabilisierung des Landes unter Taliban-Herrschaft eher gefördert wird und ein wirtschaftlicher Zusammenbruch mit Hungersnot abgewendet wird", sagt Koehler.

Über den Experten: Dr. Jan Koehler ist Sozialwissenschaftler, war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit" der Freien Universität Berlin und arbeitet derzeit an der Universität Osnabrück und SOAS in London zur Drogen- und Milizproblematik in Afghanistan. Seit 2005 ist er für die empirische Afghanistanforschung zuständig. Koehler hat für die OSZE gearbeitet und berät Entwicklungshilfsorganisationen in Zentralasien, Afghanistan und dem Kaukasus zu Konfliktanalyse, Konflikttransformation und Wirkungsevaluierungen.

Verwendete Quellen:

  • dpa
  • The Washington Post: Opinion: The mujahideen resistance to the Taliban begins now. But we need help. 18.08.2021
  • The Washington Post: Anti-Taliban resistance fighters rely on grit, history and geography to hang onto a sliver of Afghanistan. 2.09.2021
  • Twitter: Profil von Amrullah Saleh
  • Twitter: Profil von Yalda Hakim. Beratungen in der Provinz Pandschir
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