• Die letzten US-Soldaten haben Afghanistan nach fast 20 Jahren verlassen.
  • In Kabul feiern die Taliban und sprechen von einem historischen Moment.
  • Bei Afghanen vor Ort geht die Angst um: "Die Taliban werden nun ihre wahren Gesichter zeigen."

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Der Mann, der die Szene am Flughafen Kabul filmt, ist aufgeregt. "Maulawi Sahib, wie fühlen Sie sich?" fragt er einen anderen Mann, der zwischen mehreren Bewaffneten über das Gelände läuft. Doch die Männer reden alle durcheinander.

Zu hören ist, dass die Taliban-Kämpfer einander an diesem frühen Dienstagmorgen (Ortszeit) gratulieren. Zu hören sind auch Schüsse. Maulawi Sahib sagt schließlich Richtung Kamera: "Bitte, liebe Mudschahedin, schießt nicht, feiert auf eine andere Weise! Betet oder seid fröhlich!"

USA beenden Militäreinsatz in Afghanistan

Erst kurz vor den mahnenden Worten des Mannes war der Himmel über Kabul ruhig geworden. Rund zwei Wochen lang war der Lärm ohrenbetäubend - ohne Unterlass waren Militärmaschinen am Flughafen der afghanischen Hauptstadt ein- und ausgeflogen, Kampfjets über die Stadt gefegt und knatternde Hubschrauber wie Shuttle-Dienste unterwegs gewesen.

Um Mitternacht Ortszeit war alles vorbei. Mit großen Militärmaschinen hoben die letzten US-Soldaten am Flughafen Kabul ab.

Der tatsächlich letzte US-Soldat, der Afghanistan verließ, war Generalmajor Chris Donahue, Kommandeur der 82. Luftlandedivision der US-Armee. Ein Foto, aufgenommen durch ein Nachtsichtgerät und vom US-Zentralkommando zur Verfügung, zeigt Donahue wie er eine C-17 auf dem Kabuler Flughafen besteigt. Als sich das Frachtflugzeug in die Luft erhob, war der Militäreinsatz der Vereinigten Staaten in Afghanistan nach fast 20 Jahren endgültig beendet.

Außenminister Maas will nicht persönlich mit den Taliban verhandeln

Über die Ausreise schutzsuchender Afghanen möchte Bundesaußenminister Heiko Maas nicht selbst mit den militant-islamistischen Taliban reden. Dafür zuständig ist jemand anderes.

Ihr Abflug macht dem mahnenden Maulawi Sahib und anderen Taliban-Kämpfern den Weg auf das Flughafengelände frei, das sie sogleich erkunden. Ein Reporter der "Los Angeles Times" läuft mit mehreren Kämpfern einer Spezialeinheit der Taliban in einen Flugzeughangar im militärischen Teil.

In einem Video ist zu sehen, wie Männer mehrere Chinook-Helikopter inspizieren - sie wirken wie US-Soldaten. Es sind aber Taliban, die auf ihrem militärischen Eroberungszug quer durch das Land viel Beute gemacht haben - soviel, dass sie nun von ihrer Ausrüstung her kaum von US-Soldaten zu unterscheiden sind.

Die Bitte von Maulawi Sahib, doch nicht in die Luft zu schießen, um den Sieg über die Supermacht USA zu feiern, scheint in der allgemeinen Aufregung untergegangen zu sein. "Sie haben sicher zwei Stunden lang durchgeschossen", erzählt Omid, ein Unternehmer aus Kabul der Deutschen Presse-Agentur am Telefon.

Freudenschüsse seien ja in Kabul keine Seltenheit, die Menschen würden losfeuern, wenn sie eine Hochzeit feierten, ein Sohn geboren werde oder ein afghanischer Mixed-Martial-Arts Kämpfer einen Wettbewerb gewinnt. "Aber so etwas habe ich noch nie erlebt."

"Dümmste Evakuierungsaktion, die es je gab"

Wie er sich denn nun fühle, nach dem Abzug der Amerikaner? Die Frage bringt den 41-Jährigen in Rage. "Das war doch die dümmste Evakuierungsaktion, die es je gab", sagt er. "Die haben nur ihre eigenen Staatsbürger und danach Diebe und Kriminelle aus dem Land gebracht, und wir, die mit Berechtigungen, sitzen noch immer hier", schimpft er.

Aber was denn der Abzug des letzten US-Soldaten nach 20 Jahren in seinem Land für ihn bedeute? "Ich fühle mich hilflos", sagt Omid nach einer langen Pause. "Ich will doch einfach nur würdevoll das Land verlassen."

Auch ein Soldat aus der Provinz Pandschir antwortet am Telefon mit schwacher Stimme, er könne diese Frage nicht beantworten. "Ich kann mich doch damit jetzt nicht beschäftigen. Ich habe zwei Minibusse nach Masar-i-Scharif organisiert, und ich weiß noch nicht, ob meine Familie heil angekommen ist". Von dort solle die Familie irgendwie über die Grenze nach Usbekistan. Was denn die Fragen über die Amerikaner jetzt sollten, schimpft er, und legt auf.

Taliban: "Wir schreiben wieder Geschichte"

Die Frage wurde dafür ausführlich von Taliban beantwortet. Anas Hakkani war der erste hochrangige Islamist, der sich äußerte.

"Wir schreiben wieder Geschichte. Die 20-jährige Besetzung Afghanistans durch die USA und die Nato endete heute Abend. Gott ist groß." Er sei sehr glücklich, nach 20 Jahren des Dschihad, auf dessen Opfer und Härten er stolz sei, nun diese historischen Momente zu sehen.

In sozialen Medien beglückwünschen sich Taliban-Anhänger gegenseitig. "Gratulationen an alle", hieß es, "Afghanistan ist frei". Andere schreiben, der Mythos der amerikanischen Unbesiegbarkeit sei in Afghanistan zerschlagen worden. Und: "Ihr hattet die Uhren, aber wir hatten die Zeit."

"Ihre Augen dürsten nach Rache"

Der Unternehmer Omid ist in dieser Nacht verzweifelt: Die Zeit, so wie sie war, sei nun endgültig vorbei. "Die Taliban werden nun ihre wahren Gesichter zeigen", ist er überzeugt. Diese seien gewalttätiger und extremistischer, als sie die Afghanen bisher gesehen hätten.

Bislang hätten sich die Taliban in Kabul zurückgehalten. Seit ihrer Machtübernahme Mitte August hätten sie sich gemäßigter und versöhnlich gegeben. Omid aber erwartet, dass sie ab nun etwa nicht mehr nur die Häuser von Regierungsbeamten und Sicherheitskräften durchsuchten. "Bald werden sie auch vor meiner Tür stehen."

Eine Episode will Omid noch erzählen: Am Freitag sei er aus der Stadt hinausgefahren, in die Provinz rund um Kabul. Die Taliban-Kämpfer dort seien völlig anders als jene, die gerade in der Hauptstadt seien. "Ich fürchte mich nicht schnell, aber diese Menschen haben mich erschreckt", sagt Omid. "Ihre Augen dürsten nach Rache." (jwo/mf/dpa/Veronika Eschbacher)  © dpa

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