Nach Einschätzung von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) war die Hochwasserlage in Niedersachsen noch nie zuvor so angespannt. Mehr als 100.000 Menschen sind gegen das Wasser im Einsatz.

Mehr Panorama-News

Überflutete Ortsteile, evakuierte Menschen und Tieren: Die Hochwasserlage hält viele Menschen im Osten und Norden Deutschlands in Atem. In Niedersachsen ist die Hochwasserlage nach Einschätzung des Ministerpräsidenten so angespannt wie nie.

"Ein Hochwasser diesen Ausmaßes hat es hier bei uns zuvor nie gegeben. Experten warnen seit langem davor, dass die immer häufigeren Wetterextreme mit dem Klimawandel zusammenhängen", sagte Stephan Weil (SPD) am Donnerstag in einer Mitteilung. Man müsse in der Zukunft das Engagement in der Hochwasserprävention weiter verstärken sowie den CO2-Ausstoß dringend weiter reduzieren.

Laut Weil sind im Bundesland mehr als 100.000 Menschen im Einsatz gegen das Hochwasser. "Die Bilder gleichen sich und doch sind sie vielerorts erschreckend: Riesige Wassermassen dort, wo sich sonst vergleichsweise kleine Flüsse durch die Landschaft schlängeln, mit Sandsäcken verstärkte Deichanlagen, Pumpen im Dauerbetrieb." Mehrere Bundesländer helfen mit Sandsäcken und Feuerwehrhilfstrupps.

Zahlreiche Pegel über der höchsten Meldestufe

In Niedersachsen sei in sechs Landkreisen sowie der Stadt Oldenburg (Stand Donnerstagnachmittag) ein sogenanntes außergewöhnliches Ereignis festgestellt worden, teilte ein Sprecher des Innenministeriums auf dpa-Anfrage mit. Betroffen sind die Landkreise Celle, Oldenburg, Emsland, Osterholz, der Heidekreis sowie Verden und die Stadt Oldenburg. Durch die Feststellung eines außergewöhnlichen Ereignisses können Landkreise beispielsweise einfacher auf Hilfskräfte zugreifen.

Zahlreiche Pegel waren über der höchsten Meldestufe - insbesondere im südlichen Teil des Bundeslands, wie der Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten und Naturschutz (NLWKN) mitteilte. Betroffen von hohen Pegelständen seien etwa die Flüsse Weser, Aller, Leine und Oker. In dem sogenannten Unterlauf der Aller ab der Stadt Celle würden die Wasserstände zudem weiterhin steigen.

Wegen des Aller-Hochwassers mussten in der niedersächsischen Gemeinde Winsen rund 300 Menschen ihre Wohnungen verlassen. Das Wasser stand laut Landkreis Celle in einigen Straßen rund 40 bis 50 Zentimeter hoch. Aus Sicherheitsgründen sei daher der Strom abgestellt worden.

Weitere News gibt's in unserem WhatsApp-Kanal. Klicken Sie auf "Abonnieren", um keine Updates zu verpassen.

Historischer Wasserstand überschritten

In Drakenburg bei Nienburg an der Weser wurde den Angaben nach der historische Wasserstand von 1981 mit 834 Zentimetern überschritten. Der Scheitel werde dort in der Nacht zu Freitag erwartet, weiter flussabwärts in Richtung Bremen erst in der Nacht zu Samstag. Im Oberlauf der Weser sei der Scheitel bereits erreicht und die Pegelstände sinken.

Nach einem Deichriss in Lilienthal bei Bremen wurden angrenzende Straßen erfolgreich evakuiert. In der Gemeinde waren in den vergangenen Tagen an mehreren Stellen Deiche stärker beschädigt worden. Nach einer ersten Evakuierung am Mittwochabend wurden in der Nacht weitere Straßen "aus dringenden Sicherheitsgründen" geräumt, wie die Feuerwehr mitteilte. Die Menschen kamen bei Freunden und Verwandten oder in einer hergerichteten Turnhalle unter. In dem evakuierten Bereich sei daraufhin der Strom abgeschaltet worden.

Im Serengeti-Park im niedersächsischen Hodenhagen wurden einige Tiere evakuiert, nachdem Wasser in Stallungen eindrang.

"Viele arbeiten Tag und Nacht"

Ministerpräsident Weil verurteilte den mancherorts zu beobachtenden Katastrophentourismus. "Mein eindringlicher Appell an alle Neugierigen lautet: Lassen Sie es bleiben, gehen Sie irgendwo anders spazieren oder bleiben Sie zuhause. Die Helferinnen und Helfer haben alle Hände voll zu tun, viele arbeiten Tag und Nacht. Man darf ihnen ihre schwierige Arbeit wirklich nicht noch schwerer machen."

Die Feuerwehren haben noch mit anderen Problemen zu kämpfen: Ihnen werden Hilfsmittel geklaut. "Sandsäcke, die an Deichen verbaut sind, werden von Anwohnern weggeholt, weil sie selber keine Sandsäcke haben, um ihre Häuser zu schützen", sagte der Präsident des Deutschen Feuerwehrverbands, Karl-Heinz Banse.

Außerdem berichtet er: "Es gibt Beleidigungen, es gibt Diskussionen mit Betroffenen, warum wird erst in der Straße A begonnen und nicht in der Straße B das Wasser abzupumpen. Warum hat mein Nachbar vorher die Feuerwehr im Keller als ich", sagte Banse. "Da gibt es viel, viel Streitereien." Zudem habe die Feuerwehr mit sehr vielen Schaulustigen zu kämpfen.

Pretziener Wehr erstmals seit 2013 geöffnet

Zur Entschärfung der Situation im Raum Magdeburg öffnete der Landesbetrieb für Hochwasserschutz am Donnerstag das etwa 135 Meter lange Pretziener Wehr. Damit wird jetzt etwa ein Drittel des Elbe-Wassers an den Städten Magdeburg und Schönebeck vorbei durch einen Kanal geleitet, ehe es wieder in die Elbe fließt. Auf den umliegenden Deichen verfolgten am Vormittag mehrere Hundert Menschen das Geschehen. Das Wehr war zuletzt im Juni 2013 geöffnet worden.

Die Wasserstände in den sächsischen Flüssen fallen inzwischen wieder - mit einer Ausnahme. Das Hochwasser der Elbe stieg am Donnerstag in Sachsen aber nur noch langsam. Am frühen Nachmittag wurde in Dresden ein Pegelstand von 5,92 Meter gemessen. Das war weiterhin knapp unter der Sechs-Meter-Marke, ab der die zweithöchste Alarmstufe 3 gelten würde.

Die Landeshochwasserzentrale rechnete damit, dass diese Grenze am Freitagmorgen überschritten wird - allerdings mit maximal 6,01 Meter nur sehr geringfügig. Normal ist in der Elbe in der Landeshauptstadt ein Wasserstand von 2,00 Metern.

Deich soll gezielt geöffnet werden

Aus der Talsperre Kelbra in Sachsen-Anhalt war bereits zuvor Wasser abgelassen worden. Dadurch stieg der Wasserstand des Flusses Helme und gefährdet nun nach Behördenangaben den Ortsteil Nikolrausrieth in Thüringen. Einsatzkräfte bauen laut Innenministerium dort Sandsäcke am Flussufer auf, um ein Überlaufen des Wassers in den kleinen Ort mit etwa 30 Häusern zu verhindern. Am Nachmittag entschieden die zuständigen Behörden beider Bundesländer, den in Sachsen-Anhalt liegenden Helme-Deich gezielt zu öffnen, um das Wasser auf umliegende Felder abzuleiten.

Lesen Sie auch: 2023 wärmstes Jahr seit Aufzeichnungsbeginn

Die Bewohner des wegen Hochwassers evakuierten Ortes Windehausen in Thüringen können indes in ihre Häuser zurückkehren. Er habe die Anordnung zur Evakuierung am Vormittag aufgehoben, sagte Bürgermeister Matthias Marquardt. Nachdem Stromversorgung und Abwasserentsorgung wieder funktionierten, seien die Gründe für die Evakuierung weggefallen. Die Einwohner des Ortsteils könnten zurückkehren - zunächst aber weiterhin nur mit Pendelbussen, noch nicht mit eigenen Fahrzeugen.

Windehausen war Weihnachten von Schmelzwasser aus dem Fluss Zorge und nach oben gedrücktem Grundwasser überflutet worden. Am ersten Weihnachtsfeiertag hatte das Wasser dem Bürgermeister zufolge um die 70 Zentimeter hoch auf den Straßen gestanden. 400 der 500 Einwohner folgten der Aufforderung zur freiwilligen Evakuierung.

Niederschläge in Sicht - "Jeder Tropfen eigentlich zu viel"

Eine komplette Entspannung deutet sich bei der Hochwasserlage weiter nicht an. Zwar werde in den nächsten Tagen insgesamt nicht mehr so viel Regen wie um Weihnachten erwartet, sagte der Meteorologe Marcel Schmid vom Deutschen Wetterdienst (DWD) am Donnerstagmorgen in Offenbach. "Allerdings ist jeder Tropfen eigentlich einer zu viel."

Am Freitag könne es immer wieder einmal regnen - insbesondere im Umfeld von Harz, Bergischem Land, Sauerland und Siegerland. Eher nur vereinzelte Schauer sind laut dem Meteorologen für Samstag vorhergesagt. Am Sonntag könnte es wieder häufiger zeitweise regnen.

Und der Start ins neue Jahr beim Deutschland-Wetter? "Ab Montag wird es tendenziell etwas kühler. Aber es gibt keinen Wintereinbruch", sagte Meteorologe Schmid. Eher in den Höhenlagen könne etwas Schnee liegenbleiben.(dpa/jst)  © dpa

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.

Teaserbild: © dpa/Moritz Frankenberg