• Das Schuljahr hat gerade erst begonnen und schon fällt bundesweit immer wieder der Unterricht aus.
  • Hauptursache ist der Lehrermangel – bis zu 40.000 Lehrkräfte könnten Schätzungen zufolge aktuell fehlen.
  • Um eine Klasse zu unterrichten, braucht es längst keinen Lehramtsabschluss mehr. Sind Quer- und Seiteneinsteiger die Lösung des Problems?
  • Bildungsforscher Klaus Klemm gibt Antworten.

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Morgen erst zur 3. Stunde Unterricht – Matheentfall. Vertretung in Englisch – Lehrerin krank. Schon um 12.30 Uhr Schulschluss – die letzten Stunden fallen aus. Ein typisches Bild an Schulen im ganzen Bundesgebiet. Immer wieder müssen Unterrichtsstunden ausfallen, Klassen selbstständig arbeiten, Förderangebote gestrichen werden oder größere Lerngruppen gebildet werden.

Wie viel Unterricht genau ausfällt, darüber gibt es nur Schätzungen. In NRW bemängelte die Landeselternschaft einen Unterrichtsausfall von über sechs Prozent. Transparente Statistiken fehlen - die offiziellen Zahlen stellen den Unterrichtsausfall oft nur geschönt dar, etwa, indem eine Mitbetreuung durch die Nachbarklasse nicht als Unterrichtsentfall gewertet wird.

Bis zu 40.000 Lehrer fehlen

Krankenstand, Ausflugstag, Fortbildung: Die Gründe für den Entfall sind vielfältig. Die Hauptursache aber bleibt der Lehrermangel. Eine neue Nachricht ist das nicht, doch das Problem verschärft sich: Aktuellen Erhebungen zufolge könnten im neuen Schuljahr in Deutschland bis zu 40.000 Lehrkräfte fehlen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) geht davon aus, dass es trotz vielfältiger Bemühungen auch im Jahr 2035 noch 23.800 sein werden.

Geflüchtete Kinder aus der Ukraine in deutschen Schulen machen zusätzliches Personal notwendig. Aus Sicht der Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Karin Prien, geht es um eine Größenordnung von rund 24.000 Lehrkräften, die zusätzlich benötigt werden.

Erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern

Der Mangel an Lehrerinnen und Lehrern bleibt nicht folgenlos: Kürzungen der Stundentafel oder größere Klassen sind schon lange keine Tabuthemen mehr. Lehrer verschieben ihren Renteneintritt oder kommen aus der Pension zurück. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind dabei erheblich: Das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen startete im August mit etwa 4.000 offenen Stellen ins Schuljahr, in Schleswig-Holstein waren kurz vor Schuljahresbeginn noch 200 Stellen an Schulen unbesetzt.

Besonders dramatisch ist die Lage in Ostdeutschland. In Berlin konnten zu Schulbeginn nur knapp 60 Prozent der ausgeschriebenen Lehrstellen besetzt werden, in Sachsen klafft eine Lücke zwischen Stadt und Land – die meisten wollen nach Leipzig, Dresden oder Chemnitz, viel zu wenig nach Ostsachsen. Besonders groß ist der Mangel landesweit in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern.

Pensionäre und Studierende in den Klassen

Die Bundesländer versuchen auf mehreren Wegen gegenzusteuern und Löcher zu stopfen: In Thüringen wurden Klassen auf 30 Schülerinnen und Schüler aufgestockt, Sachsen-Anhalt baut die Personalrekrutierung über Headhunter-Agenturen aus, Niedersachsen stellt Studierende ein und erhöht Teilzeitarbeit, Schleswig-Holstein hebt die Einstiegsgehälter in der Grundschule an. Einen Weg, den alle Bundesländer wählen: Seiten- und Quereinsteiger. Das heißt: Klassen werden von Kräften unterrichtet, die nicht auf Lehramt studiert haben.

Möglich ist das bereits seit dem Beschluss der KMK aus dem Jahr 2013. Damals verständigte sie sich auf "Sondermaßnahmen zur Gewinnung von Lehrkräften zur Unterrichtsversorgung" im Fall von "lehramts- und fächerspezifischen Bedarfen", die auf dem klassischen Weg einer universitären Ausbildung mit anschließendem Vorbereitungsdienst nicht gedeckt werden können.

Quereinsteiger als Teil der Lösung

"Es gibt unterschiedliche Wege, wie man ohne Lehramtsstudium am Ende eine Klasse unterrichtet: Quer- und Seiteneinsteiger", sagt Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm. Quereinsteiger hätten ein universitäres Examen in Fächern gemacht, aus denen sich lehramtsbezogene Fächer ableiten ließen.

"Zum Beispiel ein Masterstudium in Mathematik", so Klemm. Dieser Abschluss eröffne den Absolventen den Zugang zum Vorbereitungsdienst. "Anschließend gehen die Menschen dann ganz normal ins Referendariat – ohne die ursprünglichen Voraussetzungen zu erfüllen", erklärt Klemm. Das erziehungswissenschaftliche Begleitstudium fehle in diesem Fall.

Auch Seiteneinsteiger hätten in der Regel ein unterrichtsaffines Fach studiert. "Sie gehen aber direkt mit einer reduzierten Stundenanzahl in die Schulen und werden von einem erfahrenen Lehrkollegen dabei begleitet", so Klemm. Sie hätten neben der Lehrtätigkeit begleitende Schulungen, um sich nachzuqualifizieren.

Experte: "Können Bedarf ohne Seiten- und Quereinsteiger nicht decken"

"Die Forschung zeigt, dass der Erfolg von Schülern, die von Quereinsteigern unterrichtet werden, dem Erfolg derjenigen, die von herkömmlich ausgebildeten Lehrern unterrichtet werden, in nichts nachsteht. Für Seiteneinsteiger gibt es solche Studien nicht", sagt Klemm.

Er ist sich sicher: "Wir können den Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern nicht decken, ohne auf Quer- und Seiteneinsteiger zurückzugreifen". Die Maßnahme sei unverzichtbar, wenn man die Standards für Klassengrößen, Unterrichtsstunden und die Arbeitszeit des Lehrpersonals auf dem jetzigen Niveau halten wolle.

Ein Drittel Quer- und Seiteneinsteiger in Brandenburg

"Im Bundesschnitt sind um die 10 Prozent der neu eingestellten Lehrerinnen und Lehrer Seiten- und Quereinsteiger", sagt Klemm. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind aber groß: Während in Brandenburg in diesem Jahr 30 Prozent der unbefristet neu eingestellten Lehrkräfte Quer- und Seiteneinsteiger waren, liegen die Zahlen in Süddeutschland auf einem niedrigen einstelligen Niveau.

"Es fehlen Zahlen darüber, wie viele Seiten- und Quereinsteiger tatsächlich in den Schulen unterrichten. Die Praxis gibt es seit Jahren, aber manche sind auch wieder ausgestiegen", sagt Klemm. Er sieht Seiten- und Quereinsteiger als Teil der Lösung. "Die höhere fachliche Kompetenz kann die didaktische Kompetenz aufwiegen", meint er. Die Frage sei: "Ist es besser, den Unterricht ganz ausfallen zu lassen oder ihn wenigstens von nicht hinreichend qualifizierten Kräften durchführen zu lassen?", sagt Klemm.

Experte spricht von "pädagogischer Schnellbesohlung"

Das Modell des Seiteneinstiegs, bei dem von Beginn an mitunterrichtet wird, sei schneller wirksam. "Allerdings kann man hier auch von pädagogischer Schnellbesohlung sprechen", sagt Klemm. Wie sich das auf das Bildungsniveau der Schüler auswirkt? Unbekannt.

Quer- und Seiteneinsteiger gibt es in allen Bundesländern, doch in einem Land sind die Zahlen auffällig niedrig: In Bayern. "Bayern hat im Bereich der Planung die Bedarfe früher erkannt und früher auf die Mangellage reagiert", meint Klemm. Das Land habe die Bedarfszahlen laufend erhöht. "Gleichzeitig zahlen die Bayern auch höhere Gehälter, das ist für viele attraktiv", sagt er. Es gibt aber auch nur verhältnismäßig wenige Anwärter auf den Seiten- und Quereinstieg. Bei insgesamt 20.000 Mittelschul-Lehrkräften in Bayern hatten sich zuletzt nur rund 50 Personen für den sogenannten fachfremden Quereinstieg gemeldet.

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Bessere Rahmenbedingungen gefordert

"Es gibt kein Bundesland ohne Lehrermangel", betont Klemm. Langrfristig sieht er nur eine Möglichkeit: Die Ausbildung muss hochgefahren werden. "Das wird aber erst in etwa sieben bis acht Jahren wirken", erinnert er. Um Reparaturmaßnahmen komme man nicht herum.

"Zusätzlich könnte man versuchen die Abbrecherquote auf dem Weg ins Lehramt, etwa nach dem Examen oder nach dem Referendariat, durch bessere Beratung und Begleitung zu reduzieren", schlägt Klemm vor.

"Die Rahmenbedingungen müssen für Lehrkräfte besser werden: Damit es attraktiv ist, von Teilzeit aufzustocken, könnte man Lehrpersonal beispielsweise einen Platz in einem Betriebskindergarten garantieren", so der Experte. Auch die engmaschigere Begleitung von Quer- und Seiteneinsteigern sei notwendig. "Wenn man dafür erfahrene Lehrer abstellt, muss man die Löcher aber erst einmal größer machen, um sie zu stopfen."

Über den Experten:
Prof. Dr. Klaus Klemm ist Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung an der Universität Duisburg-Essen.

Verwendete Quellen:

  • Deutsches Schulportal: Lehrermangel verschärft sich weiter. 26.08.2022
  • Deutsches Schulportal. Quereinstieg: Große Länderunterschiede.12.06.2019
  • Lehrerseite: Unterrichtsausfall in der Schule. 2016


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