Am 3. Oktober feiert man in Deutschland traditionell den Tag der deutschen Einheit, ein Fest zur Wiedervereinigung Deutschlands. Wir haben einen Universitätsprofessor gefragt, ob das Gefühl eines vereinigten Deutschlands auch in den Köpfen der Menschen in Ostdeutschland angekommen ist.

Ein Interview

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Herr Professor Hofmann, Sie forschen und lehren seit vielen Jahren an den Universitäten in Jena und Dresden. Wie haben sich die Vorbehalte gegenüber dem Osten mit der Zeit geändert?

Hofmann: Die Vorbehalte nehmen immer mehr ab. Früher wurden westdeutsche Studenten, die im Osten studiert haben, oft gefragt: "Du studierst im Osten, hast du etwa keine guten Zensuren?" Aber das hat sich geändert. Aus Jena, Potsdam, Leipzig und Dresden sind internationale Großstädte geworden. Das wissen die jungen Leute auch im Westen.

Woher kommt eigentlich das oft negative Bild, das der Westen von Ostdeutschland hat?

Die Rhetorik des Kalten Krieges wurde weitergeführt. Nach der Wende wirkte im Westen die Ideologie des Antikommunismus nach. Somit wurde ein problematisches Bild von Ostdeutschland geprägt. Der Westen mit der amerikanischen Leitgesellschaft war das Vorbild. Es galt, dass der rückständige verfallene Osten nach westlichem Vorbild modernisiert werden musste.

Sehen sich Ostdeutsche eher als Ostdeutsche, während sich Westdeutsche eher als Bayern oder Hessen definieren?

Das würde ich nicht sagen. Erstaunlicherweise hat diese Regionalpolitik, also dass man die Länder wieder gegründet hat, identitätspolitisch ziemlich gut funktioniert. Die Sachsen fühlen sich patriotisch so wie die Bayern. Das ist vielleicht in Ländern wie Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg etwas weniger ausgeprägt, weil es gemischte Regionen sind. Aber insgesamt glaube ich, dass sich der Sachse, der Bayer oder der Hesse kaum ausspielen lässt gegen das Bild des Ost- oder das Westdeutschen.

Aber das Leben in der DDR ist für viele noch greifbar - das Königreich Sachsen allerdings schon eine Weile her ...

Sie sprechen von der DDR-Identität, die hat ja mit Ostdeutschland erstmal nichts zu tun. Die ostdeutsche Identität ist in den 1990er-Jahren entstanden. Sie hat eine einseitig defizitäre Zuschreibung aus Sicht der Westdeutschen, nehmen Sie zum Beispiel den Begriff des "Jammerossis". Ich bezweifle sogar, dass es in Ostdeutschland selber eine richtige ostdeutsche Identitätsdefinition gibt. Fragen sie mal in Hamburg, die haben vielleicht mehr Typisierungsangebote für Ostdeutsche als die Ostdeutschen selber.

Aber in letzter Zeit sieht man Aufkleber mit "Ostdeutschland" an Autos. Oder auch die Fans von Dynamo Dresden rufen laut "Ost-, Ost-, Ostdeutschland" in den Stadien.

In diesen Fällen funktioniert das in der politischen Auseinandersetzung, in einer Protesthaltung. Aber es geht auch anders als die von Ihnen genannten Beispiele. So versucht die Initiative "Dritte Generation Ost" diese negative Zuschreibung des zurückgebliebenen, modernisierungswürdigen Ossis in ein positives Bild zu wandeln, aber ohne die Protestsicht zu vernachlässigen.

Gibt es Regionen, in denen die Identität als Ostdeutsche stärker ausgeprägt ist?

Es sind eher die Krisenregionen, in denen es weniger Perspektiven gibt, in denen die Kinder weggegangen und die Alten geblieben sind. Oft gibt es dort auch einen Männerüberschuss.

Wie kommt es zu diesem Männerüberschuss?

Ostdeutsche Männer hatten mehr Probleme auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt, weil sie mehr Konkurrenz hatten. Sie haben es im Gegensatz zu Frauen häufig nicht geschafft, im Westen Fuß zu fassen und sind zurückgekommen. Die Frauen waren oft selbstbewusster und besser ausgebildet als westdeutsche Frauen, die zur damaligen Zeit seltener gearbeitet haben. Die ostdeutschen Frauen haben im Westen geheiratet und sind geblieben. Das ist ein wichtiger Grund, warum in Ostdeutschland jetzt weniger Kinder geboren werden.

Schauen wir in die Zukunft. Wie wird sich die Abgrenzung zwischen Ost und West entwickeln?

Ich glaube, dass sich das rauswächst - unter anderem durch die Angleichung der Lebensverhältnisse. Die Vermögensverhältnisse sind in den vergangenen Jahren in Ostdeutschland gestiegen, ebenso wie die Zufriedenheit der Ostdeutschen. Es gibt sehr viele hoffnungsvolle Dinge. Auch Seitens der Politik wird immer stärker die Frage gestellt, was können wir voneinander lernen.

Welche Rolle spielt die ostdeutsche Familie, die beispielsweise die schlechten Erfahrungen der Wendezeit an die neue Generation weitergibt?

Die Familie ist natürlich die Sozialisationsinstanz Nummer eins. Und in den 1990er-Jahren haben in den Familien kaum Generationsbrüche stattgefunden. Wenn es schwierig wird, dann ist man nicht bereit, neue Erfahrungen zu machen. Die Kinder müssen ihre Eltern unterstützen. Aber jetzt, wenn wieder klarere Perspektiven herrschen, ändert sich auch die Sichtweise. Wir sehen, dass die Krisenprägungen der Familien in den 1990er-Jahre bei den jungen Generationen zwar noch präsent sind, aber nicht mehr als existenzielle Bedrohung. Meist sind es mittlerweile auch schon die Großeltern, die diese Wendeverwerfung erlebt haben.

Im Osten haben die Menschen nach der Wende viele Veränderungen durchlebt. Aber was hat die Wende mit dem Westen gemacht?

Zu wenig glaube ich. Das ist immer so, wenn sie gewinnen, dann haben sie wenig Gründe zum Nachdenken. Es gab damals im Westen leider nicht die Euphorie, wir könnten gemeinsam etwas Neues entstehen lassen. Stattdessen dachte der Westen, wir haben jetzt diesen rückständigen, verfallenen Osten. Das führte zu einer Selbstbestätigung und eben nicht zu einer Selbstreflexion.

Aber vielleicht hatte man auch weniger Gründe?

Im Westen passierte die neoliberale Wende genauso. Und jetzt bekommen wir das Problem des Rechtspopulismus auch in Westdeutschland nicht mehr los. Zwischen 1990 und 1994 waren die Werte bei Messungen von rechtsextremen Einstellungen im Westen um einiges höher als in Ostdeutschland. Das kippt eigentlich erst 1994. Dann hat der Osten aufgeholt, weil die Rechtsextremen viele Strukturen im Osten aufgebaut haben.

Wie meinen Sie das?

Es ist vor allem ein Problem der neoliberalen Gesellschaft. Die ganze Sozialromantik der Rechten ist eine einfache Antwort oder eine Gegenreaktion auf die Globalisierung und wirtschaftliche Verwerfung.

Wenn sich jetzt die Coronakrise stärker auf die Wirtschaft auswirkt, besteht dann die Gefahr, dass Ost und West wieder auseinanderdriften?

Die ostdeutsche Wirtschaft ist nicht ganz so stark getroffen wie in Westdeutschland, weil die großen Player wie Lufthansa im Westen ihre Standbeine haben. Aber wenn die Ressourcen knapper werde, nehmen Verteilungskämpfe zu. Aber es ist durchaus möglich, dass es wieder stärkere Ost-West-Diskussionen geben wird. Bis jetzt wird die Krise gut abgefedert.

Über den Experten:
Der Soziologe Professor Michael Hofmann hat unter anderem an den Universitäten Jena und Dresden gelehrt. Seine Forschungen widmen sich der Milieusoziologie und der Sozialstruktur in Deutschland. Er gilt als ausgewiesener Experte der Transformationsforschung, die sich mit dem Übergang von gesellschaftlichen Systemen befasst. Michael Hofmann wurde 1952 in Leipzig geboren und hat Kultursoziologie studiert.
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