Schon seit längerer Zeit steht die Polizei in Deutschland in der Kritik. Es häufen sich rechtsextremistische Haltungen und Handlungen. Trotzdem spricht Bundesinnenminister Horst Seehofer von "Einzelfällen" und weigert sich, eine Rassismus-Studie innerhalb der Polizei zu beauftragen. Der Kriminologe Martin Thüne sagt dazu: "Mir erschließt sich das nur in einem sehr begrenzten Umfang."

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Herr Thüne, warum wehrt sich Seehofer so vehement gegen eine Rassismus-Studie innerhalb der Polizei?

Martin Thüne: Tja, das ist eine gute Frage. Mir erschließt sich das auch nur in einem sehr begrenzten Umfang. Rein sachlich gesehen müsste Herr Seehofer so eine Studie unterstützen und sogar einfordern. Denn nur so gibt es ein empirisches Fundament, auf dem sich politische Entscheidungen aufbauen lassen.

Seehofer spricht gerne von "Einzelfällen" - nur häufen sich diese in der jüngsten Zeit. Wo hört der Einzelfall auf und wo geht das echte Problem los?

Ein Einzelfall hört für mich bereits da auf, wo mehr als eine Person beteiligt ist. Nehmen wir also eine einzelne Chatgruppe, dann steckt hier bereits das Wort 'Gruppe' mit drin. Mehrere Menschen haben über Jahre hinweg rechtsextremistische Haltungen geäußert und sich dazu in Form von Nachrichten oder Bildern ausgetauscht.

Also schon allein beim jüngsten Fall in NRW möchte ich nicht von einem Einzelfall sprechen, denn es sind mehrere Personen über mehrere Jahre mit mehreren Taten. Und wenn ich dann noch andere Fälle aus den vergangenen Jahren dazuzähle, dann ist das faktisch ein sich wiederholendes Muster.

Obendrein muss man dann noch sagen, dass wir gar nicht wissen, wie oft es solche Vorkommnisse gibt, weil sie zu einem gewissen Teil vollständig im Verborgenen bleiben und zum anderen Fälle, die zumindest behördenintern bekannt werden, nicht zwangsläufig an die Öffentlichkeit gelangen. Wir kennen nur einen Ausschnitt und wissen wenig bis nichts über das tatsächliche Ausmaß.

Was halten Sie vom vorgeschlagenen "Lagebild über Rechtsextremismus in der Polizei", das NRW-Innenminister Herbert Reul durch einen Sonderbeauftragten anfertigen lassen möchte?

Prinzipiell ist es richtig, dass man sich Überblick verschaffen möchte. Aber es kommt doch die Frage auf, warum das nicht der Standard ist. Und zwar überall in Deutschland - in jedem Bundesland und jedes Jahr. Warum gibt es solche Berichte nicht regelmäßig? Ich bin außerdem skeptisch, was die Ernennung von Sonderbeauftragten betrifft.

Feste Strukturen und Ansprechpartner, die mit dem Thema vertraut sind und dauerhaft daran arbeiten, würden viel mehr Sinn ergeben. Wenn die Politik ein echtes Interesse daran hätte, etwas an der Situation zu ändern, dann hätten diese Strukturen schon längst entstehen müssen.

Wie rechts ist denn die Polizei?

Diese Frage kann ich leider nicht beantworten, denn als Wissenschaftler bin ich hier wie im Blindflug. Das betrifft nicht nur die rechten Tendenzen, sondern grundsätzlich alles, was mit Einstellung und Verhalten zu tun hat, weil es einfach kaum Studien oder verlässliche Informationen gibt. Und das ist ein großes Problem - erst recht dann, wenn solche Fälle wie jetzt immer wieder auftauchen.

So kommt man in Erklärungsnöte, denen keine gesicherten Daten gegenübergestellt werden können, und das macht es für alle Beteiligten schwierig. Die Politik, die Innenminister und die leitenden Polizeibeamten müssten ein Interesse daran haben, dieses Feld aufzuhellen - auch um für sich selbst sagen zu können, wie die Lage wirklich ist.

Welche Rolle spielt das Thema Korpsgeist?

Das spielt natürlich klar eine Rolle, denn wir sprechen über Gruppen und damit über Gruppendynamik. In der Polizei gibt es neben positiven auch bestimmte negative Gruppendynamiken und Organisationsstrukturen. Diese sorgen dafür, dass einige Beteiligte nicht aufbegehren und intervenieren, auch wenn sie es tun sollten und wollten - vor allem dann, wenn wie in NRW ganze Dienstgruppen inklusive der Vorgesetzten beteiligt sind.

Für diejenigen, die sich daran nicht beteiligen wollen und ein solches Verhalten verurteilen, müssen wir die Möglichkeiten schaffen, Fehlverhalten in einem geschützten Raum oder anonym melden zu können. Und zwar ohne dass daraus erhebliche Karrierenachteile für sie entstehen. Ansonsten wird es zwangsläufig immer Menschen geben, die sich zwar daran stoßen, aber Angst haben, etwas zu sagen und so zu Mitläufern werden.

Wie sieht die Innensicht der Polizei aus?

Meiner Wahrnehmung nach gibt es zwei Lager. Es gibt Polizeibeamte, die sich sehr kritisch zu den Vorfällen wie in NRW äußern, die Fortschritt und Aufklärung einfordern. Und dann gibt es diejenigen, die einen Mantel des Schweigens über diese Themen legen möchten. Das scheint mir auch unabhängig von der Hierarchieebene zu sein, sondern zieht sich durch alle Instanzen.

Warum ist es wichtig, verlässliche Fakten über die Breite des Rechtsextremismus innerhalb der Polizei zu haben?

Die Polizei als Exekutivorgan steht für die Ausübung des Gewaltmonopols. Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass wir es dabei mit durchgehend demokratisch handelnden Menschen zu tun haben. Es sollte ein Urinteresse der Polizei sein, dass ihre Organisationsmitglieder Demokratie mit jeder Pore atmen. Und dazu kommt, dass die Polizei nur dann erfolgreich arbeiten kann, wenn sie das Vertrauen der Bevölkerung genießt. Das kann durch tatsächliche Fakten gestärkt werden.

Haben Sie Vertrauen in unsere Polizei?

Ja, habe ich persönlich schon, weil ich viele Polizeibeamte kenne, die sehr gute Arbeit leisten. An die muss ich gerade in diesen Zeiten mitunter denken, weil ich weiß, wie solche Vorfälle ihre Arbeit erschweren. Nicht nur, aber gerade auch für sie würde ich mir wünschen, dass endlich etwas getan wird. Und solche Vorfälle wie in NRW sorgen selbst bei mir ganz persönlich dafür, dass das Vertrauen zwar nicht wegbricht, aber auch nicht gerade steigt.

Immerhin haben wir hier in Deutschland im internationalen Vergleich eine sehr gut ausgebildete Polizei, die in der Regel auch ein breites Vertrauen genießt. Ich kann jedoch ganz gut verstehen, wenn insbesondere bestimmte Betroffenengruppen, die schlechte Erfahrungen mit der Polizei machten, systematisch ein geringeres Vertrauen in die Polizei haben.

Wie könnte man die Polizei aus Ihrer Sicht "besser" machen und welche Rolle spielt dabei die Politik?

Zum einen muss es endlich Studien geben, um festzustellen, wie das Bild bzw. die Lage ist. Aber das ist nicht das Maß aller Dinge. Die Problematik und die Beziehung zum Rechtsextremismus in geschlossenen Verbänden wie der Polizei und Bundeswehr ist schon lange ein Thema.

Es gibt dazu seit Jahrzehnten ganz klare Handlungsempfehlungen, die aber nur unzureichend oder gar nicht umgesetzt werden: Politische Bildung braucht größeren Raum in der Ausbildung und berufsbegleitenden Fortbildung. Es braucht feste Ansprechpartner und Vertrauensstellen, die unabhängig und nicht innerhalb der Organisation angesiedelt sind. Es braucht einen unzweifelhaften Willen politischer und polizeilicher Vorgesetzter, entsprechendes Fehlverhalten nicht durchgehen zu lassen und dieses restlos aufzuklären.

Nicht zuletzt ist auch dauerhafte psychologische Begleitung und Supervision wichtig, um über die eigene Rolle, negative Erlebnisse sowie Herausforderungen reflektieren. Fakt ist: In keinem einzigen Bundesland gibt es bei der Polizei eine regelmäßige, anlassunabhängige und flächendeckende Supervision. Das finde ich im Jahr 2020 sehr schwierig. Man sollte sich wirklich fragen, ob der Status Quo noch der modernen Polizeiarbeit entspricht, die unsere Gesellschaft braucht.

Über den Experten:
Martin Thüne (*1988) ist Kriminologe und Polizeiwissenschaftler. Er forscht an der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung zu Sicherheitsfragen.
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