Vorstöße kamen bereits aus Europa und vom Grünen-Politiker Boris Palmer: Beim Exit aus dem Corona-Lockdown müsse es altersversetzte Maßnahmen geben. Während die Jungen wieder in Freiheit leben dürften, sollten die Älteren weiter zu Hause bleiben. Macht die Nachkriegsgeneration da mit? Das sagen die Politik-Urgesteine Gregor Gysi, Hans-Christian Ströbele, Edmund Stoiber und Gerhart Baum.

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Wirtschaft vs. Gesundheit, Kontrolle vs. Freiheit, Solidarität vs. Egoismus - in der Coronakrise steckt jede Menge Zündstoff. Ebenfalls heiß debattiert: Die Trennlinie zwischen Jung und Alt.

Schwelten Diskussionen über Generationengerechtigkeit schon im Zusammenhang mit der Klimadebatte, heizte spätestens der Vorstoß des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer den Streit wieder an.

In der "Tageszeitung" (Bezahlinhalt) forderte der Grünen-Politiker einen Corona-Exit nur für Jüngere und sagte: "Ich halte es für vertretbar, bei Menschen im Alter ab 65 und aufgrund von Vorerkrankungen solche Quarantäne-Anordnungen auszusprechen." Auch auf europäischer Ebene waren bereits Rufe nach altersversetzten Lockerungen zu vernehmen.

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Corona: Alte in Quarantäne, Junge in Freiheit

Zwar haben Virologen immer wieder betont, dass die Annahme falsch ist, dass das Coronavirus Jüngeren nichts anhaben kann. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) haben bestimmte Bevölkerungsgruppen aber ein höheres Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf.

Neben Patienten mit Vorerkrankungen oder unterdrücktem Immunsystem sind das vor allem Menschen ab 50 Jahren. Das Durchschnittsalter der bislang 4.352 Menschen, die im Zusammenhang mit COVID-19 in Deutschland verstarben, liegt bei 82 Jahren.

Die Alten isoliert, die Jungen in Freiheit - ist das die Lösung? Und: Verschärft die Coronakrise die Kluft zwischen den Generationen? Das sagen Gregor Gysi (Linke), Edmund Stoiber (CSU), Hans-Christian Ströbele (Grüne) und Gerhart Baum (FDP), allesamt Polit-Promis der Generation 70 plus.

Wer akzeptiert Ausgangsbeschränkungen nur für Ältere?

Palmers Parteikollege Hans-Christian Ströbele (80) meldete sich schon prompt nach dessen Vorstoß vehement zu Wort: "Wenn sie die Alten und chronisch Kranken separieren, bin ich am nächsten Tag beim Bundesverfassungsgericht und klage", sagte der Ex-Bundestagsabgeordnete dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland".

Auch im Gespräch mit unserer Redaktion betont er: "Das Alter ist kein zulässiges Unterscheidungskriterium. Die Altersgruppe ab 65 ist heterogen - es gibt 75-Jährige, die in drei Orchestern spielen oder noch Berufe ausüben. Sie können mindestens genauso gesund wie ein 63-Jähriger sein."

So sieht es auch der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi (72): "Die Risikogruppen umfassen bis zu einem Drittel der Bevölkerung. Es sterben auch Jüngere und ursprünglich Gesündere." Altersversetze Lockerungen seien wegen des Gleichheitsgrundsatzes im Grundgesetz kaum vorstellbar. Die Herausforderungen dieser Pandemie ließen sich nur solidarisch bestehen.

Baum: "Schutz der Risikogruppe muss Antrieb sein"

Der ehemalige Innenminister Gerhart Baum (87) ergänzt: "Ich halte Ausgangsbeschränkungen wie in Bayern generell für nicht verhältnismäßig und verfassungskonform. Kontaktregelungen sind okay, so wie sonst im Bund und weltweit."

Altersbezogene Kontaktregelungen hält Baum aber für nicht durchführbar. Er fragt: "Wie sollen etwa altersbezogene Straßenkontrollen aussehen?" Aus dem Haus sollten alle Bürger - denn frische Luft kräftige das Immunsystem.

Zudem bezweifelt der FDP-Politiker, ob es überhaupt klar abgrenzbare Risikogruppen gebe. "Es könnte höchstens sinnvoll sein, Risikogruppen durch eine App über Kontakte mit Infizierten zu informieren", so Baum. Dabei müsse der Schutz der Risikogruppe jedoch stets der Antrieb sein - nicht eine etwaige Entlastung der Jüngeren.

Stoiber würde Maßnahmen akzeptieren

Nur Edmund Stoiber (78) ist anderer Meinung: "Ich würde solche Maßnahmen akzeptieren, auch wenn es schwerfällt." Der Schutz vor Ansteckung habe höchste Priorität. "Gleichzeitig würde ich erwarten und erhoffen, dass die Beschränkungen nur so lange andauern, wie es unbedingt notwendig, also verhältnismäßig ist", betont der ehemalige CSU-Vorsitzende.

Die erste und zweite Halbzeit der Coronakrise - also Lockdown und Exit-Strategie - seien gleichermaßen anspruchsvoll, "wo alles der gefährdeten Gesundheit und der Stärke unseres Gesundheitswesens unterzuordnen ist", so Stoiber. Sinnvoll findet aber auch Stoiber Regelungen ausschließlich für Ältere nicht: "Sie würden das Gefühl der sozialen Isolation verstärken", vermutet er.

Kommt es zum Generationen-Kampf?

Dass es zu einem Generationenkonflikt kommt, glaubt keiner der vier Politiker. "Unverantwortliche Äußerungen und Forderungen in der Politik haben jedoch zu einer großen Verunsicherung bei vielen Älteren geführt", hat Ströbele beobachtet.

Gysi warnt: "Es wäre fatal, wenn man aus unterschiedlichen Gefährdungsgraden durch das Virus unterschiedliche Rechte an gesellschaftlicher Teilhabe ableitete."

So wie die jüngere Generation in Bezug auf den Klimawandel vollkommen zu Recht von der Politik verlange, ihre Lebensperspektiven in 30 oder 40 Jahren endlich zu berücksichtigen, müsse das für den Schutz von Leben und Gesundheit in der Coronakrise auch gelten.

Große Solidarität der Generationen

"Gott sei Dank gibt es hierzulande nicht so absurde Diskussionen wie in den USA", sagt Baum. Dort hatte der Vizegouverneur von Texas, Dan Patrick, gefordert, die Alten für die Wirtschaft zu opfern. Auch das Bundesministerium des Innern (BMI) hatte überlegt, Alte an besondere Orte zu verbringen.

Stoiber dazu: "Eine Äußerung wie 'Warum reden uns die Großeltern eigentlich immer noch jedes Jahr rein? Die sind doch eh bald nicht mehr dabei' der Fridays-for-Future-Bewegung ist die absolute Ausnahme und mit Recht von allen gesellschaftlichen Gruppen heftigst kritisiert worden." Es gebe nach wie vor eine große Solidarität der Generationen. "Das ist ein großartiger Anspruch und Wert unserer Gesellschaft", so Stoiber.

Was braucht es im Kampf gegen Corona?

Altersversetzte Regeln und Lockerungen - in den Augen der vier Polit-Promis offenbar nicht die richtige Strategie. Was aber dann? In einem Essay schlug ein "Spiegel"-Autor vor, von einer "neuen großen Herausforderung" zu sprechen, statt von der letzten, und begründete: "Die Nachkriegsgeneration tut sich schwer damit einzugestehen, dass sie fortan 'Risikogruppe' heißen soll."

Weil diese Jahrgänge seit einem halben Jahrhundert für subjektive Freiheit gekämpft hätten, komme man jetzt nur weiter, wenn der Kampf gegen die Pandemie "als das neue große Ding dasteht und diese tüchtige Generation abermals gerufen wird zu helfen."

Stoiber betont: "Eine Debatte um die richtige Wortwahl führt in dieser angespannten Situation wirklich nicht weiter." Die Nachkriegsgeneration habe viel für unser Land getan und es zu großem Wohlstand und einem starken Sozialstaat geführt - daher gebe es auch pensionierte Ärzte oder Pfleger, die sich freiwillig meldeten, um in Krankenhäusern oder Pflegeheimen mitzuhelfen.

Ströbele: "Jung und Alt nicht auseinanderdividieren"

Ströbele fordert: "Wir dürfen Alt und Jung nicht auseinanderdividieren." Inzwischen seien erhebliche Freiheitseinschränkungen in Kraft - angefangen bei untersagten Gottesdiensten und Fußballspielen bis hin zur zeitweisen Abschaffung des Demonstrationsrechts.

"Wir müssen beständig und genau prüfen, welche Maßnahmen weiterhin verhältnismäßig sind und ob es nicht Alternativen gibt", so Ströbele. Für Gysi heißt das auch eine Alternative zum wirtschaftlichen System: "Wir müssen unsere Wirtschaftsweise hinterfragen und erkennen, dass diese Menschheitsprobleme, zu denen auch die soziale Frage gehört, nicht mit nationalem Egoismus zu lösen sind", so der Linken-Politiker.

Baum bilanziert: "Ich stimme Gysi zu, wir müssen vieles überdenken. Die Regierung ist jetzt auf dem richtigen Weg." Die Grundeinstellung, mit großer Vorsicht auf Sicht zu fahren, sei absolut richtig und vermittelbar. Viel sei bereits geopfert worden - das solle man nicht durch leichtfertige Öffnungen aufs Spiel setzen.

Verwendete Quellen:

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