• Sowohl die Zahl der Neuinfektionen als auch die der täglichen Corona-Toten bewegen sich weiter auf einem hohen Niveau.
  • Eine Initiative sieht die bisherigen Maßnahmen deshalb als gescheitert an.
  • Sie fordert einen radikalen Weg: einen allumfassenden Shutdown für einige Wochen.
  • Einige Experten kritisieren die Idee scharf.

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Es ist ein ebenso ambitioniertes wie radikales Ziel nach einem Jahr Coronakrise: In Deutschland und in Europa soll sich kein Mensch mehr mit dem Virus infizieren. Um das zu erreichen, fordert eine Initiative von Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten, Erziehern, Aktivisten und Gesundheitspersonal ein europaweites Herunterfahren des öffentlichen Lebens – darunter auch die Wirtschaft.

Wir erklären, wie das aus Sicht der Initiative funktionieren soll, wer hinter dem Aufruf steckt und welche Kritik es an den Plänen gibt.

Wie will die Bewegung ihr Ziel erreichen?

Die bisherige Strategie, die Pandemie zu kontrollieren, sei gescheitert, heißt es in dem Aufruf der Initiative #ZeroCovid. Aus diesem Grund fordert sie einen radikalen Schritt: einen nahezu allumfassenden Shutdown für einige Wochen. "Wir schränken unsere direkten Kontakte auf ein Minimum ein – und zwar auch am Arbeitsplatz!", schreibt die Initiative auf ihrer Webseite.

"Wie viele andere Menschen auch wollen wir nicht länger diesen ewigen Lockdown Light oder dieses ständige Hin und Her zwischen Verschärfungen und Lockerungen mittragen", sagte Sprecher Oliver Kube der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Daher sei ein solidarischer "Shutdown aller nicht lebenswichtigen Bereiche, insbesondere der Wirtschaft" nötig.

"Was unter dem Begriff 'Zero Covid' kursiert, ist ein sinnvolles Ziel – dann hat man die Denkweise umgedreht", sagte der Physiker und Modellierer Michael Meyer-Hermann, der die Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig leitet, dem Deutschlandfunk. Damit würde man anders als bisher nicht mehr nur auf die Fallzahlen reagieren. Auch Meyer-Hermann hält das dauernde Hoch- und Runterfahren von Lockdowns für schädlicher als einen vergleichsweise kurzen, aber dafür umso umfassenderen Shutdown.

Dabei sei es der Initiative besonders wichtig, dass die Schwächeren und Schwächsten nicht auf der Strecke blieben, sagt #ZeroCovid-Sprecher Kube. Um das zu gewährleisten, fordert die Initiative europaweite COVID-19-Solidaritätsabgaben auf hohe Vermögen oder Unternehmensgewinne. Etwaige Lohnausfälle sollen durch ein breit aufgestelltes soziales Rettungspaket aufgefangen werden.

Die Initiative pocht zudem darauf, den Gesundheits- und Pflegebereich "sofort und nachhaltig" auszubauen sowie Privatisierungen und Schließungen zurückzunehmen. Impfstoffe gegen das Coronavirus sollen Gemeingut werden.

Wer steckt hinter dem Aufruf?

Zu den Erstunterzeichnern gehören nach Angaben der Initiative unter anderem die Klimaaktivistin Luisa Neubauer, der Journalist Georg Restle, die Autorinnen Margarete Stokowski und Teresa Bücker, die Linken-Abgeordnete Simone Barrientos sowie der Sea-Watch-Aktivist Ruben Neugebauer. Auch viele Wissenschaftler und Angestellte aus dem Gesundheitsbereich hätten unterschrieben.

Stokowski schrieb auf Instagram, sie wünsche sich, dass der Aufruf "einfach zack sofort umgesetzt wird". Auch Neubauer rief auf Twitter dazu auf, unter dem Hashtag #ZeroCovid zu diskutieren.

Welche Kritik gibt es an dem Vorhaben?

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hält jede Maßnahme, die die Infektionsketten unterbricht, für "erstmal sinnvoll". Der Corona-Experte betonte im Interview mit unserer Redaktion: "Jede Infektion ist eine zu viel."

Allerdings hält es Streeck für gesellschaftlich und medizinisch unmöglich, die Corona-Zahlen auf Null zu drücken. "Wir müssen einfach weiter forschen – und anfangen, mit dem Virus zu leben", sagte er.

Das ist auch die Position des Corona-Expertenrats der nordrhein-westfälischen Landesregierung, in dem Streeck eines von zwölf Mitgliedern ist. Der Rat warnt in seiner aktuellsten Stellungnahme vom Montag sogar vor "Lockdown-Fanatikern", ohne die #ZeroCovid-Initiative direkt zu erwähnen.

Der Verfassungsrechtler und ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof äußerte sich laut "Deutscher Apotheker Zeitung" vergangen Freitag auf dem Landeskongress Gesundheit Baden-Württemberg kritisch. Er habe sich demnach besorgt über den Aktionismus in der Coronakrise gezeigt.

Scharfe Kritik äußerte auch der Ökonom, Philosoph und Wirtschaftsethik-Professor von der TU München, Christoph Lütge. "#ZeroCovid ist eine unverantwortliche, völlig einseitige und alle Kollateralschäden ignorierende Initiative", twitterte das Mitglied des Bayerischen Ethikrats. Wer ein solches Vorgehen befürworte, handele "massiv unethisch", meint Lütge.

Der NDR-Journalist Gabor Halasz hält die Initiative für "eine schöne Utopie" – die allerdings "weltfremd" und in einer Demokratie nicht realistisch sei. Halasz warf den Befürwortern ebenfalls vor, "die schweren Nebenwirkungen eines Knallhart-Lockdowns" auszublenden.

Die Kritik, ein solidarischer und umfangreicher Shutdown sei in Deutschland nicht möglich, hält #ZeroCovid-Sprecher Kube für unberechtigt. "Wenn es mehrere andere Staaten gibt, die das bereits erfolgreich getan haben, dann ist das keine Frage der prinzipiellen Machbarkeit, sondern der machtpolitischen Durchsetzung." (dpa/mf)

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