Unkontrollierbare Ess-Attacken und danach Sport bis zum Umfallen, um die überschüssigen Kalorien loszuwerden: Fachleute sprechen bei so einem Verhalten von einer Sport-Bulimie. Betroffene trainieren exzessiv und weit über die Grenzen ihres Körpers hinaus.

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Erst, als sie im Fitness-Studio einfach umgekippt ist, wusste die Frau, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte sich nach einem Ess-Anfall komplett verausgabt und nicht auf ihren Körper gehört, der längst erschöpft war. Ein typischer Fall von Sport-Bulimie, sagt Professor Dr. Thomas Huber. Er ist Chefarzt der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen, die auf Essstörungen spezialisiert ist.

Zum Krankheitsbild einer Bulimie gehören Anfälle, bei denen Betroffene unkontrolliert große Mengen essen und sich danach erbrechen. Von Sport- oder auch Exercise-Bulimie sprechen Fachleute, wenn die Betroffenen eher nicht erbrechen, sondern übermäßig viel Sport treiben.

Damit wollen sie die Kalorien abbauen, die sie während ihrer Attacke zu sich genommen haben. "Das hat einen suchtartigen Charakter", sagt Professor Huber. "Manchmal kommt es bei einer Bulimie auch kombiniert zu einer Sportsucht und zum Erbrechen."

Viele Erkrankte treiben mehrere Stunden lang Sport am Tag

Viele Erkrankte üben mehrere verschiedene Sportarten aus. "Manche verbringen zum Beispiel eine Stunde im Fitness-Studio – und gehen danach noch drei Stunden laufen", sagt der Experte. Die Grenzen zwischen noch gesundem Verhalten und Krankheit sind dabei fließend.

"Irgendwann steht nicht mehr der Spaß an der Bewegung im Vordergrund, sondern das Gefühl, sich bewegen zu müssen – auch wenn es überhaupt keine Freude mehr macht", sagt Professor Huber. "Dann sprechen wir von einer Krankheit."

Im schlimmsten Fall kann der Körper durch ein solches Verhalten geschädigt werden. "Wenn man kaputte Knie hat und nicht mehr laufen soll, aber trotzdem mehrere Stunden am Tag laufen geht, dann schädigt man seinen Körper", sagt Professor Huber.

Es drohen sogar Herzprobleme bis hin zum Tod beim Sport – wenn Betroffene zum Beispiel trotz einer Grippe Sport treiben. Durch das wiederholte Erbrechen kann es auch zu einem Kaliummangel kommen, da der Körper zu wenige Nährstoffe erhält. Auch das ist gefährlich, da der Mangel gerade beim Sport zu schweren Herz-Rhythmus-Störungen führen kann.

Soziale Beziehungen können ebenfalls bei einer Sport-Bulimie leiden. Es fehlt nicht nur an der Zeit für Kontakte und an Energie. "Manche der Erkrankten vernachlässigen komplett ihre Interessen", sagt Professor Huber. "Sie sind nicht mehr flexibel und sagen zum Beispiel Besuche ab, weil sie das Gefühl haben, in dieser Zeit Sport machen zu müssen."

Junge Frauen sind am häufigsten betroffen

Grundsätzlich leiden mehr Frauen als Männer an Essstörungen. Das gilt auch für die Sport-Bulimie. "Allerdings sind Männer davon im Schnitt etwas häufiger betroffen als bei anderen Essstörungen", sagt der Experte. Am häufigsten erkranken Frauen in oder kurz nach der Pubertät sowie bis zu ihrem 30. Geburtstag.

Wie viel Prozent der Bevölkerung von einer Sport-Bulimie betroffen sind, kann Professor Huber nicht sagen. Bislang fehlen noch verlässliche Statistiken. Der Chefarzt der Klinik geht aber davon aus, dass es eine relativ hohe Dunkelziffer gibt. "Die Krankheit fällt von außen häufig erst einmal nicht auf."

In der Klinik gibt es erst einmal Sport-Entzug

Viele Betroffene leiden jahrelang, bevor sie sich Hilfe suchen. "Man kann probieren, eine ambulante Therapie zu machen", sagt Professor Huber. Seiner Erfahrung nach ist es aber einfacher, dafür in eine Klinik zu gehen. "Ein Ortswechsel tut vielen gut, um aus ihren Routinen auszubrechen", sagt er.

In der Klinik am Korso werden Patienten mit Sport-Bulimie im Schnitt sieben bis zehn Wochen lang behandelt. "Wir setzen erst einmal auf Entzug", sagt der Chefarzt. Die Betroffenen dürfen keinen Sport mehr machen. "Und dann dürfen sie langsam wieder damit anfangen, wenn sie es überhaupt wollen."

Es gehe nicht darum, für den Rest des Lebens auf Sport zu verzichten, sondern ein gesundes Maß zu entwickeln. Außerdem wird in der Therapie an den Hintergründen und Ursachen der Krankheit gearbeitet. "Oft geht es nicht nur um das Gewicht, sondern auch um das Gefühl, die Kontrolle zu haben und beim Sport etwas zu leisten."

Professor Huber ermutigt zu einer Therapie: "Auch wenn eine Sport-Bulimie schon sehr lange bestehen sollte, kann man in einer Therapie jederzeit etwas erreichen." Auch Angehörige und Freunde können auf Hilfsangebote hinweisen – sollten dabei aber behutsam vorgehen und den Betroffenen nicht zu etwas drängen.

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