Um das Leben eines Krebskranken zu retten, muss der Tumor in seinem Körper in vielen Fällen bei einer OP entfernt werden. Doch ausgerechnet dieser Eingriff kann es sein, der lebensgefährliche Metastasen heranreifen lässt.

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Chirurgische Eingriffe bei Brustkrebs können die Wahrscheinlichkeit für frühe Metastasen erhöhen. Das haben Mediziner in Versuchen mit Mäusen bestätigt.

Als Ursache sehen sie Prozesse bei der Wundheilung an, wie sie im Fachjournal "Science Translational Medicine" berichten. Der nicht an der Studie beteiligte Heidelberger Krebsmediziner Hellmut Augustin hält die Ergebnisse für wissenschaftlich sehr bedeutsam – die daraus abgeleiteten Empfehlungen aber für gegenwärtig nicht begründet.

Bei rund einem Drittel der Patientinnen gebe es zum Zeitpunkt der Brustkrebs-Diagnose schon Krebszellen in anderen Bereichen des Körpers, erläutern die Forscher um Jordan Krall und Robert Weinberg vom Whitehead Institute for Biomedical Research in Cambridge (Massachusetts). Was entscheidet darüber, ob diese Zellen – wie meist – in einem Ruhezustand verharren oder sich zu lebensbedrohenden Tochtergeschwulsten, sogenannten Metastasen entwickeln?

Theorie nicht neu

Vor allem 12 bis 18 Monate nach einer Brustkrebs-Operation tauchen Weinbergs Team zufolge bei einigen Patientinnen frühe Metastasen auf. Über die möglichen Ursachen werde seit Jahrzehnten debattiert.

Einige Experten sind der Ansicht, dass die Metastasen zum natürlichen Verlauf der Krankheit gehören, andere vermuten einen Zusammenhang mit dem chirurgischen Eingriff. Bis heute gebe es keine therapeutischen Mittel gegen das Phänomen.

Unwahrscheinlich sei, dass sich beim Herausschneiden des Primärtumors Krebszellen lösen, in andere Bereiche wandern und dort Metastasen bilden, erläutern die US-Forscher.

In diesem Fall dürften die frühen Tochtergeschwulste bei Patientinnen mit einer Mastektomie, einer teilweisen oder vollständigen Entfernung der betroffenen Brust, kaum auftreten. Dies ist aber sehr wohl der Fall.

Ursache möglicherweise Wundheilungsprozess

Wahrscheinlicher sei daher ein Zusammenhang mit Signalstoffen, die das Wachstum zuvor ruhender Krebszellen anregen.

Weinbergs Team untersuchte nun an gut 270 Mäusen gezielt, wie sich der Wundheilungsprozess nach einer OP auf das Wachstum in den Körper eingebrachter Tumorzellen auswirkt.

Da es bei den Tieren keinen Primärtumor gab, wurde dessen Einfluss von vornherein ausgeschlossen.

Die Mäuse bekamen Tumorzellen injiziert, ein Teil bekam – zur Simulation einer Krebs-OP – ein kleines Schwammimplantat unter die Haut gesetzt.

In nicht operierten Mäusen hielten die T-Zellen des Immunsystems die übertragenen Tumorzellen weitaus besser in Schach, also im Ruhezustand. In Mäusen mit verheilender Wunde entwickelten sich die Zellen dagegen häufiger zu gefährlichen Metastasen.

Offenbar führten Prozesse bei der Heilung dazu, dass das Immunsystem die Ausreifung ruhender Tumorzellen weniger gut verhindern kann, erläutern die Forscher.

Wurden die operierten Mäuse mit dem Arzneistoff Meloxikam behandelt, einem sogenannten nichtsteroidalen Antirheumatikum (NSAID), blieben die gebildeten Tumoren wesentlich kleiner.

Meloxikam wirkt antientzündlich. Eine Gabe des Stoffes nach einer Brustkrebs-OP könne die Wahrscheinlichkeit für die Bildung von Metastasen möglicherweise verringern, vermuten die Forscher.

Sie halten es für wahrscheinlich, dass sich chirurgische Eingriffe generell auf die Ausreifung in Geweben vorhandener Vorläufer auch anderer Krebsarten auswirken können.

"Es ist vom experimentellen Design her eine extrem intelligent gemachte Studie", sagt Augustin, Leiter der Abteilung Vaskuläre Onkologie und Metastasierung am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ).

Auch andere Ursachen möglich

Die Daten bestätigten, dass allein der chirurgische Eingriff eine entzündliche Reaktion im Körper hervorrufen kann, die die Balance zugunsten von Tumorwachstum kippt. "Die Chirurgie selbst kann tatsächlich das Auswachsen von Metastasen beeinflussen."

Die von Weinbergs Team vorgeschlagene Erklärung sei allerdings nur eine von vielen möglichen. "Vielleicht ist gar nicht die Chirurgie das wichtigste", erklärt Augustin.

Möglicherweise sei es der Primärtumor selbst – beziehungsweise sein plötzliches Fehlen -, das den Ausschlag gebe. "Wenn sie den Tumor wegnehmen, verändern sie das das bestehende Gleichgewicht im Körper."

Studien seines Teams hätten zum Beispiel gezeigt, dass Primärtumoren große Mengen an VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor), einem Signalmolekül für die Gefäßbildung, produzieren. Werde der Tumor entfernt, verschwinde das Molekül rasch aus dem Blutkreislauf. Ähnliches gelte für viele andere Substanzen. Nach einer 1995 vorgestellten Hypothese könnte ein Tumor gar über Signalstoffe das Wachstum von Metastasen verhindern – und damit eine Konkurrenz um Ressourcen.

Auch das sei letztlich nur eine Theorie, über die molekularen Mechanismen der Metastasenbildung sei insgesamt noch sehr wenig bekannt. "Metastasierung ist immer noch eines der größten Mysterien der Krebsforschung."

Umso kritischer sieht Augustin, dass Weinbergs Team schon Vorschläge für eine postoperative entzündungshemmende Therapie macht. "Da muss man die Kirche ein wenig im Dorf lassen. Es ist eine sehr gut gemachte präklinische Studie – nicht mehr und nicht weniger", betont der Heidelberger Krebsforscher.

Hormone und Stoffwechsel spielen eine Rolle

Es sei völlig unklar, welche Bedeutung der gefundene Zusammenhang unter realen Bedingungen beim Menschen habe. Die Forscher selbst sprächen von vielen Variablen und Einschränkungen, bei den Ergebnissen gebe es eine große Streuung der Werte.

"Welche quantitative Bedeutung das im Konzert aller Einflussgrößen tatsächlich hat, bleibt darum abzuwarten."

In einem Übersichtsartikel im Fachmagazin "Nature Reviews Clinical Oncology" fassten Mediziner kürzlich zusammen, über welche Mechanismen chirurgische Eingriffe und die verwendeten Anästhetika die Metastasenentstehung nach derzeitigem Wissensstand beeinflussen können.

Neben dem Immunsystem spielen demnach auch die Ausschüttung von Hormonen und Stoffwechselprozesse eine Rolle.

Auch hier wird der Wundheilungsprozess erwähnt: Wird neues Gewebe gebildet, um eine Wunde zu schließen, sind darin zum Beispiel auch neue Blutgefäße nötig und entsprechende Signalstoffe werden freigesetzt – die aber auch verstreute Krebszellen heranreifen lassen oder schlummernde Mini-Tumoren aktivieren können.

Die Autoren um Jonathan Hiller vom Victorian Comprehensive Cancer Centre in Parkville (Australien) empfehlen möglichst zurückhaltende chirurgische Eingriffe – auch wegen des dann geringeren Risikos für langanhaltende Entzündungen. Sinnvoll sei zudem der Einsatz von Wirkstoffen zur Beeinflussung bestimmter Signalwege, etwa um Entzündungen rasch abklingen zu lassen.

Bildung neuer Gefäße essenziell für Tumorwachstum

Es waren Forscher um Lars Holmgren von der Harvard Mecical School in Boston (Massachusetts), die 1995 in der ersten Ausgabe von "Nature Medicine" ihre Theorie zur sogenannten Tumor Dormancy (Tumorruhe) vorstellten. In dieser Phase sind bösartige Tumore in einer Art Ruhezustand und wachsen nicht.

Holmgrens Team schrieb, dass das Gleichgewicht zwischen Neubildung und Zelltod von Krebszellen solcher Ruhestadien zugunsten der Ausreifung verändert werden kann – mit Signalstoffen zur sogenannten Angiogenese, der Neubildung von Blutgefäßen.

Sie können das Ausreifen des Tumors in Gang setzen. Die Bildung neuer Gefäße ist für einen wachsenden Tumor essenziell, weil seine Zellen mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt werden müssen.

Dass Tumor Dormancy weiter verbreitet ist als lange angenommen, wurde in den 1990er Jahren entdeckt.

Inzwischen gibt es zahlreiche Belege dafür, dass winzige Tumoren im Ruhezustand bei gesunden Individuen häufig sind. Warum sie in einigen Fällen nach vielen Monaten oder Jahren zu lebensbedrohenden Geschwulsten werden, ist auch nach der neuen Studie noch weitgehend unklar.

Die schädliche Wirkung chirurgischer Eingriffe als eine Ursache dafür auszuschalten, sei von großer Bedeutung, betont Hillers Team in "Nature Reviews Clinical Oncology".

Immerhin würden derzeit mehr als 60 Prozent aller Krebspatienten mit einer OP therapiert. In vielen Fällen ist die chirurgische Entfernung des Tumors alternativlos. Denn klar muss sein: Man kann an Metastasen überhaupt erst sterben, wenn der Primärtumor entfernt wird – sonst tötet der den Patienten.

"Viele neue Krebstherapien kosten Tausende von Dollar pro Patient und verbessern die Aussichten für den Betroffenen nicht dramatisch", schreiben die Mediziner um Hiller. Gezielte Maßnahmen gegen das Ausreifen von Metastasen nach einer OP hingegen kosteten nur einige Dollar pro Patient – brächten aber möglicherweise drastische Verbesserungen.

Es könnte dabei etwa um antientzündliche Mittel gehen, die schon länger auf dem Markt und günstig sind. Weitere Forschung in diesem Bereich sei daher dringend vonnöten.

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