Die Grausamkeit des Islamischen Staats kennt keine Grenzen. Jüngstes Beispiel der zügellosen Brutalität: Die Verbrennung des jordanischen Kampfpiloten Muas al-Kasaba bei lebendigem Leib. Wie können Menschen zu solchen Gräueltaten fähig sein? "Der Ungläubige wird entmenschlicht und ist damit für einen IS-Kämpfer weniger wert", sagt der Psychologe Roland Weierstall im Interview mit unserem Portal.

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Am Dienstag hat die Brutalität des Islamischen Staats (IS) eine neue Stufe erreicht. Ein Video zeigt, wie die Terrormiliz den jordanischen Kampfpiloten Muas al-Kasasba bei lebendigem Leib in einem Eisenkäfig verbrennt. Einmal mehr beweist der IS damit nach den Enthauptungen der vergangenen Monate, dass er vor keiner Gräueltat zurückschreckt. Doch was dabei übersehen wird: Der Islamische Staat ist kein abstraktes Objekt – es sind Menschen, die hier bewusst andere Menschen quälen und ermorden.

Der Psychologe Roland Weierstall von der Universität Konstanz war an mehreren Feldstudien zu Gewalt bei Kämpfern in Afrika beteiligt. Im Interview mit unserem Portal erklärt er, woher die Gewaltbereitschaft kommt und welche Motive einen Kämpfer antreiben.

Herr Weierstall, die Brutalität des IS sorgt weltweit für Entsetzen. Ist grundsätzlich jeder Mensch dazu fähig, gewalttätig zu werden?

Roland Weierstall: Ich würde behaupten, man bekommt fast jeden dazu, an irgendeiner Stelle gewalttätig zu werden, wenn die Bedrohung nur groß genug ist – wenn also sein Erregungszustand besonders negativ und hoch ist.

Jemanden zu enthaupten oder zu verbrennen, ist unwahrscheinlich brutal. Woher kommt diese Gewalt?

Wir unterscheiden in unserer Forschung verschiedene Gewaltformen: Einerseits Taten, die aus einem Gefühl von Anspannung, Wut oder Stress entstehen – das ist die reaktive Aggression. Auf der anderen Seite steht die appetitive Aggression – also Aggression die mit dem Ziel erfolgt, durch die Gewalt in einen Zustand positiver Emotionen zu kommen. Für die meisten Menschen nachvollziehbarer ist eher die reaktive Form, wenn man sich provoziert fühlt und sich verteidigt.

Was heißt das konkret im Fall bewaffneter Kämpfer?

Wir fanden in unseren Feldstudien ein appetitiv-aggressives Verhalten bei einem großen Teil ehemaliger Kombattanten, die längere Zeit in bewaffneten Truppen gekämpft hatten. Aussagen von ihnen waren zum Beispiel: Es ist für mich aufregend, wenn der Gegner leidet. Oder: Ich finde Gefallen daran, mein Opfer leiden zu sehen. Dies betrifft etwa ein Drittel ehemaliger Kämpfer, zum Beispiel in Rebellengruppen. Und es zeigt, wie weit die Veranlagung zu Gewalt verbreitet sein muss – wenn die Hemmschwelle erst einmal überwunden ist.

Welche Faktoren begünstigen das Überwinden dieser Hemmschwelle und letztlich die Bereitschaft zu Gewalt?

Für die reaktive Form ist es klar ein Zustand von Bedrohung, sprich eine wahrgenommene Gefahr. Dies führt dazu, an einer anderen Gruppe Rache nehmen zu wollen: Die Hemmschwelle sinkt. Auf der appetitiven Seite stellen wir ebenfalls meist am Anfang eine Hemmschwelle fest. Sie wird aber häufig dadurch überwunden, dass man das Opfer dehumanisiert. Dies kennt man aus verschiedenen Genozid-Szenarien: Die Juden wurden als "Untermenschen" beschimpft und in Ruanda ging es darum, "die Kakerlaken zu zertreten". Man nimmt seinem Gegner also die menschlichen Eigenschaften weg und setzt damit die eigene moralische Hemmung herab. Ein weiterer wichtiger Punkt ist auch die Gewöhnung, die sich nach mehreren Grausamkeiten langsam einstellen kann.

Finden sich Punkte davon auch beim Islamischen Staat wieder?

Man könnte beim Islamischen Staat zum Beispiel den "Kampf gegen die Ungläubigen" nennen. Der Ungläubige wird entmenschlicht und ist damit für einen IS-Kämpfer weniger wert. Zugleich verschafft er sich durch diese Betrachtung eine moralische Legitimation, um seine Taten durchzuführen, ohne Gewissensbisse zu bekommen.

Welche Rolle spielt die Einbindung in eine Gruppe?

Wir sehen häufig, dass in einer Rebellengruppe das grausame Verhalten verstärkt wird, etwa durch Kommandeure. Zum einen kann es Anerkennung in der Gruppe bringen – aber auch Waffen, Geld oder andere Mittel, die diesen Effekt zusätzlich steigern.

Gibt es einen Unterschied hinsichtlich der Gewaltbereitschaft von Männern und Frauen?

Schaut man in die Kriminalstatistik, findet man deutliche Unterschiede. Auch viele wissenschaftliche Artikel aus den 1970er- oder 1980er-Jahren beschreiben, dass Männer eher zu körperlicher Gewalt neigen und Frauen eher zu verbaler Gewalt oder Intrigen. Zwar fanden wir beispielsweise bei Studien in Burundi in der Zivilbevölkerung auch tatsächlich diesen Unterschied. Bewegt man sich aber im Rebellen-Kontext, verschwinden die Geschlechtereffekte und Männer und Frauen sind gleichermaßen gewalttätig. Manche männliche Kombattanten berichteten gar, dass Frauen noch grausamer und gefürchteter seien.

Dr. Roland Weierstall forscht am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Klinische Neuropsychologie der Universität Konstanz. Er beschäftigt sich insbesondere mit der menschlichen Gewalt- und Tötungsbereitschaft. Teil seiner Forschungsarbeit waren bisher mehrere Feldstudien zu Gangs, Rebellengruppen oder Kindersoldaten in ehemaligen Kriegsgebieten und Krisenregionen wie Burundi, Ruanda oder Südafrika.

  © BR

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